Schreiben, spielen, lesen

Édouard Louis: Qui a tué mon père (Wer hat meinen Vater umgebracht), Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin (Regie: Thomas Ostermeier)

Von Sascha Krieger

Am Ende, da geht der Schlussapplaus schon in die vierte oder fünfte Runde, kämpft er dann doch sichtbar mit den Tränen. Ein ganz „normaler“ Theaterabend ist das eben nicht, wenn ein Autor seinen eigenen Text, sein eigenes Leben sich selbst spielt. Édouard Louis ist so etwas wie der neue Superstar einer soziologisch-literarischen Mischform, einer autobiographischen Literatur, die sich als gesellschaftliches Analyseinstrument ebenso versteht wie als politische Waffe und die ihren Antrieb ganz aus der eigenen Erfahrung, die stets auch die Erfahrung einer ganzen vergessenen Schicht sein will, zieht. Der schwule Arbeiterschichtjunge, der seinem queerfeindlichen Umfeld entkommen ist und doch immer wieder zurück muss – zunächst zu seinen Traumata, später zu jenen seiner Eltern. Darum geht es in Qui a tué mon père, nach En finir avec Eddy Bellegueuil der dem Vater gewidmete zweite Teil seiner Familientrilogie (ein Buch über die Mutter erscheint im November). Es ist eine Annäherung an den Gegner, den vermeintlich Verhassten, das Angstobjekt, rassistisch, queerfeindlich, empathielos. Wenn Louis nun hier an der Schaubühne zu jener aussage gelangt, er hätte seinen Vater immer geliebt, ist die Verwunderung, das fast kindliche Erstaunen noch immer spür- und sichtbar, Spiel, performance, ja, aber durchlässig, hin zu dem, der diese Auseinandersetzung gewagt hat.

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Bild: Jean-Louis Fernandez

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Tod und Theater

Milo Rau und Ursina Lardi: Everywoman, Salzburger Festspiele / Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin (Regie: Milo Rau)

Von Sascha Krieger

Ein Brief sei der Ausgangspunkt für diesen Abend gewesen, erzählt Ursina Lardi zu Beginn. Eine ältere Frau habe ihr geschrieben, gern würde sie, die mit Anfang 20 mal Statistin in Romeo und Julia war, noch mal auf einer Bühne stehen. Nur gäbe es zwei Probleme: zum einen Corona, zum anderen eine hoffnungslose Krebsdiagnose. Lardi, so erzählt sie, war interessiert, sie traf sich mit Helga Bedau und jetzt sind sie gemeinsam auf einer Bühne. Oder auch nicht. Denn nur Lardi ist leibhaftig anwesend, ihre Mitspielerin erscheint auf einer großen Videowand. Und doch sprechen sie miteinander, pber Distanzen, über Zeiten hinweg. Die Illusion der Präsenz des Geschehens, die Anwesenheit des Als-ob, die immer auch eine Abwesenheit impliziert, was Theater ausmacht, drehen Lardi und Regisseur Milo Rau noch ein wenig weiter. Denn natürlich ist der Dialog Illusion, die Repliken Bedaus sind aufgezeichnet, während Lardi live spricht, aber natürlich nur das Vereinbarte. Ein Als-ob, das den Tod zu besiegen in der Lage scheint. Theater, obwohl nur im Moment stattfindend und nach Vorstellungsende verschwunden, hat doch immer schon den Anspruch zu bewahren, überzeitlich zu sein, universell auch. Rau und Lardi nehmen das ernst an diesem vor allem für ersteren so ungewöhnlich persönlichen Abend.

Bild: Armin Smailovic

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In sicherer Entfernung

Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott, Salzburger Festspiele / Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin (Regie: Thomas Ostermeier)

Von Sascha Krieger

Wer einen Wald auf die Bühne der Berliner Schaubühne stellt, weiß natürlich, welche assoziationen er bedient. Zu ikonisch ist das Birkenwäldchen aus Peter Steins legendärer Sommergäste-Inszenierung, zu unverbrüchlich verbunden mit der Geschichte nicht nur dieses Theaters, sondern der jüngeren deutschsprachigen Theaterhistorie überhaupt. Steins Nach-Nachfolger Thomas Ostermeier, einst an der DT-Baracke Protagonist eines kompromisslosen, den Finger in verdrängte Wunden einer sich als verlassen empfindenden jüngeren Generation legenden Gegenwartstheaters, später, zu Beginn seiner Schaubühnen-Zeit Vorreiter eines kalt-analytisch bürgerliche Befindlichkeiten sezierenden und dekonstruierenden Theaters, hat sich in den vergangenen Jahren zunehmend zu einem Regisseur entwickelt, der textnahes, Schauspieler*innen-zentriertes lineares Erzähltheater anstrebt, eine heute doch eher konservativ erscheinende Ästhetik, die sich aber natürlich auch und gerade am Aufbruch der ersten Schaubühnen-Generation orientiert, ihre Leichtigkeit, ihre lichtdurchflutete Klarsicht aber nur selten erreicht.

Bild: Arno Declair

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Die Lächerlichkeit des Seins

Bertolt Brecht: Der kaukasische Kreidekreis, Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin (Regie: Peter Kleinert)

Von Sascha Krieger

Bertolt Brecht ist an diesem Abend wenig mehr als ein altes dickes Buch, von dem mehrfach demonstrativ der Staub geblasen wird. Und eine Stimme, die aus dem Off in herrischem Duktus und mit rollendem „R“ Regieanweisungen gibt, die dann gleich mit höchstem Lächerlichkeitseffekt umgesetzt werden. Dass sich Regisseur Peter Kleinert und die Spieler*innen der Ernst-Busch-Hochschule dem vielgespielten Stoff ironisch nähern, machen sie gleich von Beginn an klar. Schwarz gekleidet und behaubt stimmen sie dissonant dilettantische Klänge auf dem Bandpodium auf der linken Bühnenseite an. Dass die Parabel von der Dienstmagd Grusche, die das Kind der Gouverneurin nach deren egoistischer Flucht rettet und aufzieht und am Ende vom korrupten Stadtrichter Azdak recht bekommt, weil Dinge – oder, etwas kontroverser aber nicht weiter beachteter Gedanke, Menschen – zu denen gehören sollten, die sich um sie kümmern und sorgen, hier nicht ernst genommen wird, setzt das Ensemble gleich zu Beginn.

Bild: Gianmarco Bresadola

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Nur ein Film

Virginia Woolf: Orlando, Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin (Regie: Katie Mitchell)

Von Sascha Krieger

Geschlechterrollen, ihre Zuweisungen und die Bilder, die sich Gesellschaften von den Angehörigen der jeweiligen Gender macht, sind ja bekanntlich durchaus aktuelle Themen, neu sind sie nicht: Sie gehörten etwa zum Kern von Virginia Woolfs Literatur, kulminierend in ihrem 1928 erschienenen Roman Orlando, dessen Titelfigur über 400 Jahre zunächst als Mann, dann als Frau, später fluide zwischen den Genderzuschreibungen wechselnd durch die Zeitalter und Rollen wandelt. Mit reichlich Humor, sprachlicher Leichtigkeit, die sich ebenso wandelbar zeigt wie der Held, pardon, die Heldin, begleitet Woolfs Erzähler*in die Titelfigur durch ihre zufällige, Identitätsgrenzen überschreitende, später gar negierende Emanzipation. Auch bei Katie Mitchell. Da sitzt die „Biografin“ in Person von Cathlen Gawlich oben in einer Sprecher*innen-Kabine neben der obligatorischen großen Videowand und liest aus dem Roman vor. Mit leicht spöttischen Tonfall, zuweilen der Orlando-Darstellerin Jenny König trockene Klarstellungen bei ihrer Verwirrung über Geschlechterrollen zuwerfend.

Bild: Stephen Cummiskey

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Leichtgewichtig

Molière: Amphitryon, Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin (Regie: Herbert Fritsch)

Von Sascha Krieger

Sie trippeln und tänzeln wieder. Und hüpfen. Und grimassieren. Und fallen. Und gestikulieren wild, grotesk, überzogen. Herbert Fritschs Menagerie der aus der Welt gefallenen Menschenpuppen der Absurden ist zurück an der Schaubühne. Und sie hat nicht nur einen veritablem Klassiker im Gepäck, Molières Amphitryon, die Mutter aller Verwechslungskomödien (und damit so manchen missratenen Kindes), sondern auch einen echten (Theater-/Literatur-)Star: Joachim Meyerhoff ist neu im Ensemble – und gibt seinen Einstand ausgerechnet bei einem Regisseur, in dessen Arbeiten individuelle Virtuosität nur in den Grenzen seiner farcengeschulten clownesken Klamauk-Ästhetik gefragt ist. Um es vorwegzunehmen: Es ist ein grandioser Einsdtand. Und zwar weil Meyerhoff sich perfekt ins Ensemble einfügt und zugleich auf die richtige Weise heraussticht. Sein Diener Sosias verkörpert die Verlorenheit des seiner Identrität Beraubten auf eine so traurig-komische, von existenzieller Ratlosigkeit wie naiver Selbstsucht und intriganter Boshaftigkeit gesteuerte Weise, ein Schizophreniker der Ich-Besessenheit unserer Zeit, die die Austauschbarkeit des Individuum nicht vorsieht und zugleich ihrer bedarf. Und damit ist er ein kongenialer Partner von Fritsch-Dauerspieler Bastian Reiber, der den Sosias-Imitator Merkur mit rotzig dominanter Brutalität gibt, ein selbstbewusster Identitäts- und Machtspieler – mit Betonung auf „Spieler“ – dessen zwerchfellerschütternde Komik immer etwas Gewalttätiges hat und damit einen Abgrund hinter der Lustspielfassade spürbar macht, der ins Allgemeinmenschliche, ins Universelle, ins Existenzielle weist.

Bild: Thomas Aurin

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Dass Ei des Prometheus

Prometheus. Ein Projekt von Bastian Reiber, Schaubühne am Lehniner Platz (Studio), Berlin (Regie: Bastian Reiber)

Von Sascha Krieger

Eigentlich fühlt es sich fast an, als beschlösse die Schaubühne ihre Spielzeit mit einer weiteren Herbert-Fritsch-Premiere. Faktisch stimmt das natürlich nicht – der Name Fritsch ist unter den an der Inszenierung Beteiligten nirgendwo zu finden. Und ist doch nie weit, schließlich ist es nicht nur mit Bastian Reiber ein langjähriges Mitglied von Fritschs Kerntruppe, das hier sein Berliner Regiedebüt vorlegt, auch seine Mitspieler*innen Florian Anderer, Carol Schuler und Axel Wandtke gehören zum Stammpersonal des Österreichers. Und Reiber tut wenig, um die Gedanken an Fritsch zu zerstreuen. Das beginnt schon in der ersten Szene. Da steht Carol Schuler am Bühnenrand und deklamiert Aischylos. Sie atmet an, doch der Chor bleibt zunächst auf sie beschränkt. Als Reiber dann hinzutritt, wird es auch nicht besser: Er verpasst jeden Einsatz und scheint dem Text bislang auch nur im Vorübergehen begegnet zu sein. Da verpufft sich das weltbewegende Pathos schnell in komödiantischer Dekonstruktion. Der Prometheus-Mythos was schon in der Antike ein selbst für die Tragödie ungewöhnlicher, weitete er doch den Topos von der Unentrinnbarkeit des menschlichen Schicksals und die Ambivalenz von Schuld weit über die Menschenwelt hinaus aus. Beginnend mit der Renaissance wurde aus ihm dann zunehmend eine Art alternativer Schöpfungsmythos,, der Feuerbringer zum Ausgangspunkt eines vernunftbegabten, autonomen Menschengeschlechts. Das paradoxerweise in fast allen Reiterationen nicht als handelnder Agent auftaucht, sondern so passiv und gesteuert bleibt wie die Objekte jener anderen Schöpfungsgeschichte.

Bild: Thomas Aurin

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„Braver Junge!“

Maja Zade: status quo, Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin (Regie: Marius von Mayenburg)

Von Sascha Krieger

Florian, nicht Flo. es ist sein Akt der Rebellion, einer der wenigen, die ihm offenstehen, dem schlaksigen, etwas unbeholfenen jungen Mann, der mal Auszubildender ist, mal angehender Schauspieler, mal unglücklich verheirateter Endzwanziger und Studienabbrecher. Viel mehr bleibt ihm auch nicht, denn: This is a woman’s world. Womit Prämisse, Clue und Inhalt von Maja Zades Stück bereits umrissen sind. Nach über einem Jahr #MeToo debattiert die das Thema systemischen Sexismus auf ebenso simple wie originelle Weise: Sie dreht den Spieß um. In ihrer Parallelwelt haben Frauen das Sagen. Sie besetzen alle Schlüsselpositionen, verdienen das Geld, während der Mann kocht, die Kinder erzieht und, nun ja, bastelt. Eine welt, in welcher der Mann sich ständig sexueller Belästigung ausgesetzt sieht, zum Sexobjekt degradiert wird, Opfer sexueller Gewalt ist. In der die Frau auch die Sprache beherrscht: Man tut etwas nicht, frau tut es. Telefone werden befraut, Kollegen „bocken“ sich an, weibliche Bezeichnungen sind Standard, der Mann darf sich „mitgemeint“ fühlen.

Bild: Arno Declair

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Anatomie einer Katastrophe

FIND 2019 – The Town Hall Affair, The Wooster Group, New York (Regie: Elizabeth LeCompte)

Von Sascha Krieger

1971 fand in der New Yorker Town Hall ein denkwürdiger Abend statt. Der berühmte Schriftsteller Norman Mailer hatte gerade eine gesamte Ausgabe des Magazins Harper’s Bazaar mit einem Angriff auf den zeitgenössischen Feminismus vollgeschrieben, was, wie von ihm intendiert, reichlich wellen schlug. Irgendjemand hielt es dann für eine gute Idee, eine Podiumsdiskussion mit ihm und Feministinnen unterschiedlicher Couleur zu initiieren, die auch noch – „male privilege“ auf seinem Höhepunkt – von Mailer selbst moderiert werden sollte. Jill Johnston, Autorin der Village Voice und eine der Frauen, die sich, nach vielen Absagen, bereit erklärten mitzuwirken, zog später ein bitteres Fazit: „Dass die Veranstaltung überhaupt stattfand, war eine Katastrophe für Frauen“. Eine, die festgehalten wurde: Gegen den Willen der Veranstalter aber auf Einladung Mailers filmte D.A. Pennebaker den Abend, Aufnahmen, die erst 1979 auf Anregung und unter Mitwirkung seiner späteren Ehefrau, ihren wirkungsmächtigen Weg auf die Leinwand schafften. Town Bloody Hall heißt der Film, das Dokument einer Debatte, die in ihrer Intensität, Aggressivität, ihrem Witz, aber auch ihrer Brutalität bis heute fasziniert.

Bild: Steve Gunther

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Helden der Grauzone

FIND 2019 – Didier Ruiz: TRANS (més enllà), La compagnie des Hommes, Paris / Teatre Lliure, Barcelona (Regie: Didier Ruiz)

Von Sascha Krieger

Eigentlich ist die Theaterkritik an diesem Abend fehl am Platz. Theatral ist an der aktuellen Arbeit von Didier Ruiz wenig. Setzt er Theatermittel ein, stören sie eher: die unmotivierten psychedelischen Farbprojektionen mit bunten Blumenmotiven, die er gelegentlich zwischenschaltet, oder die schwebenden Klangflächen, die so subtil im Hintergrund bleiben, dass sie der Zuschauer oft gar nicht wahrnimmt. Das ließe sich alles weglassen, ohne dem Abend irgendetwas von seiner Kraft zu nehmen. Entscheidend sind die sieben Menschen, die hier auf der in neutralem, jede Bedeutung annehmen und zugleich verwischen könnenden Grau, im Wortsinn in einer Grauzone (das einzig wirksame Theatermittel der Inszenierung) gehaltenen Bühne, ja, stehen. Und erzählen. Mit ruhiger Stimme, mitunter der Andeutung eines freundlichen Lächelns, nie aggressiv, stets zurückhaltend und gleichzeitig brutal offen. Es sind ihre Geschichten, von Menschen, die der binär biologistischen Identitäts-und Geschlechterzuweisung, von der sich unsere Gesellschaft nicht recht trennen will, nicht entsprechen. Menschen, die sich heute als „trans“ bezeichnen, die einst Namen trugen, die gemeinhin nicht dem Geschlecht entsprechen, in dem sie sich zu Hause fühlen.

Bild: Emilia Stéfani-Law

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