Gut gemeint

Vladimir Jurowski dirigiert das Silvesterkonzert des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin

Von Sascha Krieger

Dass das traditionelle Silvesterkonzert des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin auch in diesem Jahr stattfindet, ist vielleicht die größte Überraschung. Chefdirigent Vladimir Jurowskis Unwohlsein ob der Tradition, Beethovens „Neunte“ zum Jahreswechsel aufzuführen, ist nicht neu. 2017 etwa brach er das Werk auf, indem er Schönbergs A Survivor from Warsaw zwischen 3. und 4. Satz schob, in der Folge kam stets ein neues Werk vor dem Hauptprogrammpunkt zur Aufführung. In diesem Jahr wendet sich der Russe direkt an sein Publikum, spricht davon, dass die „Neunte“ längst „Teil des Silvesterkonsums“ geworden sei und wir heute von Beethovens Idealen weiter entfernt seien denn jemals zuvor. Der finale Jubel der menscheitsverbindenden Vision, die vielleicht schon immer nur eine illusion war – Jurowski ringt mit ihr, in diesem Jahr, in dem der Krieg nach Europa zurückkehrte, vom Zaun gebrochen von seinem Herkunftsland, wohl mehr denn je. Und so verspricht er, das werk zu spielen „wie nie zuvor“. Nicht nur setzt er ihm einen eigens vom deutschen Komponisten Ralf Hoyer verfassten „Prolog“ voran, er gibt nach dem 2. Satz auch seinen Dirigentenstab ab: an Natalia Ponomarchuk, eine aus der Ukraine geflohene Dirigentin, ein Zeichen, dass es nicht reicht, Geld und Waffen in das bedrohte Land zu schicken, sondern dass den Menschen von dort auch eine Stimme gegeben werden muss, eine Möglichkeit, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Dass Jurowski damit die Verantwortung für die ungeliebte Tradition im Wortsinn aus der Hand gibt, ist sicher ein nicht unerwünschter Nebeneffekt.

Vladimir Jurowski (Bild: Peter Meisel)

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Offene Wunden

Herbert Blomstedt dirigiert die Berliner Philharmoniker mit Werken von Schubert und Beethoven

Von Sascha Krieger

Das dieses Konzert überhaupt stattfinden kann, ist ein Glück. Nur ein Jahr trennen den schwedischen Dirigenten Herbert Blomstedt und die kürzlich verstorbene britische Königin. Doch auch wenn man ihm sein Alter mittlerweile durchaus ansehen kann – der Gang ist unsicher und braucht Unterstützung, Blomstedt dirigiert im Sitzen – musikalisch ist der Schwede nach wie vor hellwach und auf der Höhe seiner Kunst. Wer also erwartet haben sollte, dass sein vielleicht (wenn auch hoffentlich nicht) letztes Gastspiel bei den Berliner Philharmonikern von Altersmilde oder gar Abschiedsmelancholie erfüllt wäre, sah, nein hörte sich getäuscht. Mit Schubert und Beethoven hatte er Kernrepertoire dabei, seines und das des Orchesters. Umso erstaunlicher, dass er ersteren in seinen 47 Jahren gemeinsamer Zusammenarbeit noch nie dirigiert hat. Das holte er nun nach, auch wenn Franz Schuberts dritte Symphonie keine Offenbarung war.

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Herbert Blomstedt dirigiert die Berliner Philharmoniker (Bild: Frederike van der Straeten)

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Dienst nach Vorschrift

Musikfest Berlin 2022 – Franz Welser-Möst dirigiert The Cleveland Orchestra mit Werken von Rihm und Schubert

Von Sascha Krieger

Welch ein Kontrast: Wo Klaus Mäkelä beim Eröffmnugskonzert am Schluss wie ein Leistungssportler schwitzte, wo Yannick Nézét-Séguin vor zwei Tagen enthusiastisch zu seinen Solist*innen lief, um ihnen zu danken, hat Franz Welser-Möst nicht mehr zu bieten als einen großzügigen Fingerzeig, wo beim Ganzspiel des Philadephia Orchestra insgesamt drei Zugaben zu hören waren, gönnen die Kolleg*innen aus Cleveland der zugegeben recht spärlich besetzten Philharmonie keine einzige. Das passt zu diesem Abend, an dem die Zaubertruhe musikalischer Magie, welche die beiden anderen Maestri zumindest zu öffnen versuchten, geschlossen. Diesen Gastspiel klingt nach Dienst nach Vorschrift, nach technisch sauberem Handwerk ohne Risiko, aber eben auch ohne Glanz, ohne Offenbarung, ohne Neugier.

Franz Welser-Möst dirigiert The Cleveland Orchestra in der Philharmonie Berlin (Bild: Roger Mastroianni / The Cleveland Orchestra)

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Die wiedergewonnene Stimme

Musikfest Berlin 2022 – Yannick Nézét-Séguin dirigiert das Philadelphia Orchestra mit Lisa Batiashvili

Von Sascha Krieger

Fast könnte die*der nicht ganz so aufmerksame Zuhörende meinen, er lausche Klängen Antonín Dvořáks, so sehr erinnert die Mischung aus amerikanischer Liedsprache und hochromantischer Symphonik dem Werk des Tschechen aus seiner US-amerikanischen Schaffensphase. Doch nein, was hier zu hören ist, ist nicht die nicht unproblematische Aneignung und Übersetzung teilweise nicht-weißer Musikkultur durch den berühmten Komponisten, sondern eher ein „Reclaiming“ dieser musikalischen Welten durch eine Schwarze Frau, die lange vergessene Komponistin Florence Price, deren erste Symphonie das Philadelphia Orchestra zu seinem Gastspiel in Berlin mitgebracht hat. Dessen Chefdirigent Yannick Nézét-Séguin bemüht sich seit Jahren um die wiederentdeckung des Werks der 1953 im Alter von 66 Jahren Verstorbenen. Kein Wunder, dass auch die erste Zugabe von ihr stammt, das sanft schmachtende Adoration, mit dem die Streicher ihren typischen warmen, angedunkelten, schlanken Klang ausstellen dürfen.

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Yannick Nézét-Séguin und Lisa Batiashvili mit dem Philadelphia Orchestra in der Berliner Philharmonie (Bild: Todd Rosenberg Photography / Philadelphia Orchestra)

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Volle Kraft voraus

Musikfest Berlin 2022 – Klaus Mäkelä und das Royal Concertgebouw Orchestra eröffnen das Musikfest Berlin

Von Sascha Krieger

Am Ende erinnert Klaus Mäkelä eher an einen Hochleistungssportler (der er in seinem Alter durchaus sein könnte): Die Haare schweißgetränkt, die Anstrengung in sein Gesicht gemeißelt, muss der Finne erst einmal kräftig durchatmen, bevor er sich dem stürmischen Applaus stellen kann. Der 26-Jährige ist ein Phänomen: Chefdirigent zweier renommierter Orchester (der Osloer Philharmonie und dem Orchestre de Paris) ist er neuer „Künstlerischer Partner“ und designierter zukünftiger Chef eines Klangkörpers, den manche nach wie vor für den besten der Welt halten: das Royal Concertgebouw Orchestra in Amsterdam. Eine Karriere, die ihresgleichen sucht, zumal der jugendlich wirkende Maestro zunächst eine Laufbahn als Cellist im Auge hatte. Als Dirigent gilt er als Naturtalent, die Statements, mit denen die Amsterdamer die Zusammenarbeit bekannt gaben, flossen nur so über vor Begeisterung. Sofort habe es gepasst mit ihm, jubeln sie, und ja, die Chemie ist auch beim Berliner Gastspiel zu spüren. Und auch der Jochleistungssport-Vergleich passt, denn was Orchester und Dirigent in diesen zweieinhalb Stunden leisten, hat olympisches Nivea. Da ist kein Zurücknehmen, da ist jede Sekunde erfüllt von hundertprozentigem Einsatz, von enthusiastischer Hingabe, von vollständiger Verausgabung.

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Klaus Mäkelä dirigiert das Royal Concertgebouw Orchestra beim Musikfest Berlin 2022 (Bild: Fabian Schellhorn / Berliner Festspiele)

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Musik für diese Welt

Musikfest Berlin 2021 – Sir Eliot Gardiner, English Baroque Soloists und Monteverdi Choir mit Kantaten von Bach und Händel

Von Sascha Krieger

Nein, keine Zugabe. Ganz am Schluss, da steht das Publikum im alles andere als vollen großen Saal der Philharmonie bereits, wird es noch einmal ganz still. John Eliot Gardner hebt die taktstocklose Hand und erneut ertönt das ergreifend schlichte, andersweltlich und doch ganz hiesig schwebende „De torrente in via bibet“, der vorletzte Satz von Georg Friedrich Händels Kantate Dixit Dominus, geschrieben vom gerade einmal 21-Jährigen während seiner Italienreise. Ein mediativer Hoffnungsgesang, schlicht, still, von fragiler Kraft. Orchester und sitzender Chor geben dem Gesang eine unsichere Hand, fast brüchig, trocken die Streicher. Ein Gebet, ein wiederholtes, am Abgrund. Es ist das perfekte Ende eines großen Abends – das muss kaum dazugesagt werden bei einem Auftritt des Briten mit den von ihm gegründeten Ensembles, die seit jeher den Olymp der historisch informierten Aufführungspraxis bilden. Der manche bis heute eine gewisse akademisch museale Kälte vorwerfen. Eine Behauptung, die jede*r zurückweisen wird, die*der jemals das große Glück hatte, einer solchen Aufführung beiwohnen zu dürfen.

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Sir John Eliot Gardiner (Bild: Sim Canetty-Clarke)

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Variationen der Ratlosigkeit

Die Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko spielen Werke von Norman, Strauss, Schostakowitsch und Cage

Von Sascha Krieger

„Ohne Kunst und Kultur ist es still“: Dieser Satz wurde in den vergangenen Tagen vielfach zitiert, seit Bund und Länder ein erneutes flächendeckendes Verbot von Kulturveranstaltungen im November beschlossen haben. Am Ende des vorerst letzten Konzerts der Berliner Philharmoniker machen das Orchester und ihr Chefdirigent Kirill Petrenko diese Stille hörbar. Petrenko gibt den Einsatz vor, verharrt in dieser Pose und kein Ton ist zu hören. Nach einiger Zeit sinken die Arme, die Musiker*innen rücken sich auf den Stühlen zurecht und das Schauspiel wiederholt sich zwei weitere Mal. John Cages 4’33“ ist ein Experiment, das alle Erwartungen an Musik in Frage stellt. Hier, an diesem Abend, ist es ein Statement, ein Spürbarmachen dessen, was fehlen wird, wenn hier die Türen wieder schließen. Das pUblikum ist sich dessen bewusst. Nach dem zweiten Werk des Abends, Richard Strauss‘ Metamorphosen, schwillt der Applaus plötzlich an, wird zur Ovation. Oboist Albrecht Mayer spürt das und fordert die Kolleg*innen auf sich zu erheben. Hier wird kurz, ein, zwei Minuten nur, die Musik gefeiert, die tröstende, erhellende, lebensspendende Kraft der Kunst, stemmen sich Menschen ihrem Verstummen entgegen und versprechen: Die Stille wird nicht dauern. Weil sie es nicht darf.

Die Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko spielen Schostakowitschs neunte Symphonie (Bild: Frederike van der Straeten)

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Schwere (Wieder)Geburt

Musikfest Berlin 2020 – Robin Ticciati dirigiert das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin mit Werken von Bartók und Beethoven

Von Sascha Krieger

Ein Saisoneröffnungskonzert ist immer etwas Besonderes. Man trifft sein Publikum nach zwei, drei Monaten wieder, setzt den Ton für die Spielzeit, akzentuiert die Schwerpunkte für die kommenden zwölf Monate. Ein Wiedersehen nach kurzer Abwesenheit, ein freundliches Hallo, ein gemeinsames Pläneschmieden. In diesem Jahr ist alles anders – auch beim Spielzeitauftakt. Da steht Chefdirigent Robin Ticciati in der langen Umbaupause plötzlich auf der Bühne und spricht zum ausgedünnten Publikum im großen Saal der Philharmonie, in dem die Abwesenheit noch immer die Oberhand hat. „Es ist der Beginn einer Wiedergeburt“, sagt er auf englisch, „einer Wiederauferstehung“. Und er spricht allen Anwesenden Mut zu: „Welchen Weg auch immer wir gehen, lasst uns ihn zusammen gehen.“ Es klingt wie eine Beschwörung, wie ein Festhalten an etwas Gewohntem, das noch unsicher ist. Dazu passen die beinahe Loriot-haften Slaptstickszenen in besagter viel zu langen Pause: Minutenlang gehen zwei Mitarbeiter durch die Stuhlreihen auf dem Pdium, legen Partituren auf die Pulte, ersetzen sie durch andere und jene wiederum durch dritte. All die Routine, all das Erlernte, alle Gewissheiten: Sie scheinen verschwunden. Die Selbstverständlichkeit des gemeinsamen Musikerlebnisses – sie muss erst wiedergefunden werden und das ohne die Sicherheit, dass sie sich bewahren lässt.

Robin Ticciati dirigiert das DSO beim Musikfest Berlin 2020 (Bild: Kai Bienert)

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Der Rest ist Schweigen

Musikfest Berlin 2020 – Die letzten beiden Konzerte in Igor Levits Beethoven-Zyklus

Von Sascha Krieger

Haydn und Mozart waren die Heroen des jungen Beethovens, klassiche Opulenz, weltbewegendes Drama zeichnen die werk auf dem Zenith des Bonners aus. Das lässt sich auch an seinen 32 Klaviersonaten beobachten. Mit einer Ausnahme: Es ist gerade diese Gattung, in der Beethoven am weitesten über den musikalischen Konsens seiner Zeit hinausgeht. So gewagt, so zuvor unvorstellbar ein Werk wie die neunte Symphonie erschienen sein muss – wenn es um die Suche nach einer neue musikalischen Sprache geht, sind es vor allem die späten Sonaten, die folgenden Komponist*innen-Generationen den Weg weisen – und sie nicht selten auch verunsicherten. Wenn Igor Levit am Ende seines Sonaten-Zyklus nun die letzten sechs in chronologischer Folge in zwei Konzerten spielt, ist das eine Entdeckungsreise zu Orten, die noch immer als unsicher, als rätselhaft, als ein wenig angsteinflößend gelten können. Der zum Teil radikale Bruch mit Hörgewohnheiten, überkommenen Strukturen, Grundregeln des Komponierens kann auch heute noch überfordern.

Igor Levit (Bild: Robbie Lawrence)

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Romantisch fühlend

Musikfest Berlin 2020 – Die Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko und Frank Peter Zimmermann spielen Werke von Berg und Dvořák

Von Sascha Krieger

Alban Bergs Violinkonzert „Dem Andenken eines Engels“, gewidmet der jung verstorbenen Manon Gropius, ist ein ungewöhnliches Werk: Es ist das erste Solokonzert, dem Arnold Schönbergs Zwölftontechnik zu Grunde liegt, aber es nutzt diese in einer Weise, dass immer wieder Reminiszenzen an tonale, ja romantische Musiktraditionen entstehen. Es denkt atonal, aber es fühlt romantisch. Das macht es zu einem der eingängigsten Werke seiner Art. Frank Peter Zimmermann ist ein überaus analytischer und zugleich äußerst empfindsamer Geiger, ein Meister der stillen Gefühle und der Zwischentöne. Dass es ihm das Berg-Konzert besonders angetan hat, ist daher sicher kein Zufall. Es ist Spannung in seinem Spiel, sein Klangfaden bei aller Sachlichkeit immer nahe am Zerreißen. Die zarte Schönheit des ersten Satzes, sie weiß bereits um die Katastrophe des zweiten, der Sehnsuchtsgesang fühlt den Abschied schon mit. Das Orchester agiert dialogisch, es bewegt sich mal im Hintergrund, mal auf Augenhöhe mit dem Solisten, im zweiten Satz nimmt es das Soloinstrument zuweilen auf, verschluckt es, bevor es wieder an die Oberfläche steigt. Das alles geschieht mit maximaler Transparenz, was es dem Solisten einfacher macht, zum Teil dieses klanglichen Gebildes zu werden.

Kirill Petrenko dirigiert die Berliner Philharmoniker (Bild: Stephan Rabold)

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