Im Schweinesystem

Film – Nature Theater of Oklahoma: Germany Year 2071, Hebbel am Ufer (HAU2), Berlin (Regie: Pavol Liska, Kelly Copper)

Von Sascha Krieger

Es waren seltsame Szene, die sich im Juli letzten Jahres vor dem Haus der Berliner Festspiele abspielten: Wild schreiend und gestikulierend, die Gesichter in Panik verzerrt rannten dutzende Menschen durch die Schaperstraße, immer und immer wieder. Nebenan lief gerade die letzte Ausganbe des Festivals „Foreign Affairs“, da passten die apokalyptischen Szenen gut. Die natürlich auch dazugehörten: Nature Theater of Oklahoma, vor einigen Jahren Schwerpunkt beim Festival drehten Szenen für einen dystopischen Science-Fiction-Film namens Germany Year 2071, ein (letztes) Projekt des Festivals, gemeinsam mit dem Kölner Performance-Festival „Impulse“. Ein Filmdreh als Festival-Programmpunkt: Das ist kein kreativer Weg, Subventionen zu bekommen, sondern Teil des partizipativen Oklahoma-Konzepts. Die Gruppe befasst sich seit jeher mit der schwierigen und oft spannungsreichen Beziehung zwischen Kunst und dem, was wir flapsig Leben zu nennen gelernt haben.   So sind ihre Theaterarbeiten oft Aufeinandertreffen von Spielarten der Realität mit vollkommen unpassend erscheinenden Genreüberstülpungen. In ihren filmischen Projekten hat die „Wirklichkeit“ noch eine ganz andere Möglichkeit einzudringen: Da wird das Publikum zum Mitspieler und Miterschaffer, verschwimmen die Grenzen zwischen Kreation und Rezeption, ist das Drehen des Films zumindest nicht weniger wichtig als das Ergebnis. Der Weg ist das Ziel. Da wundert es nicht, dass der Andrang teilzunehmen groß war, der Saal bei der Berliner Premiere jedoch halbleer blieb. Oder dass die Filmproduktion wesentlicher Teil eines Festivalprogramms war, seine Vorführung sich jedoch an einem Sonntagnachmittag im HAU2 versteckte.

Bild: Sascha Krieger

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Steppende Gorillas und fluchende Bäume

Foreign Affairs 2016 – Forced Entertainment: From the Dark (Leitung: Tim Etchells)

Von Sascha Krieger

„The night is dark and full of terrors“: Fans der Kultserie „Game of Thrones“ wird dieser Satz bekannt sein. Er dient dort einer Religion als Motto, die der Dunkelheit mit dem vernichtenden Licht des Feuers zu entgegnen sucht. Ein Satz, der sich einnistet, im mit dem Schlaf ringenden Hirn des Rezensenten, als er „Foreign“ Affairs, das Performing-Arts-Festival der Berliner Festspiele durch seine letzte Nacht geleitet, bis zum Licht des Morgens, in dem es bereits Geschichte sein wird. Was vor vier Jahren in Kyohei Sakaguchis „Mobile House“ begann, endet hier, in einer dunklen, langen, langsamen kollektiven Geisteraustreibung von Forced Entertainment. Gemeinsam geht man durch die Nacht, von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang und stellt sich der Dunkelheit. Im Mittelpunkt der fast acht Stunden stehen Beichten der Darsteller*innen. Sie sitzen in der Mitte des kleinen Bühnenquadrats und erzählen von ihren Ängsten oder besser: Sie zählen sie auf. Banales mischt sich mit Existenziellem, mal ertönt Gelächter aus dem zunehmend vom regelmäßgen Atmen Schlafender erfüllten Zuschauerraum, mal ist es ganz still. Die Angst nichts zu bedeuten, kehrt immer wieder, die Angst vor einer als immer bedrohlicher empfundenen Welt und jene um die liebsten, vor allem die eignen Kinder. Auch Banales gibt es – die postmoderne Angst ist vielgestaltig, nistet sich in jedem Lebensbereich ein und ist abendfüllend.

Für From the Dark nutzen Forced Entertainment auch Material aus ihrer Arbeit "Who Can Sing a Sonfg to Unfrighten Me?" (Bild: Hugo Glendinning)
Bild: Hugo Glendinning

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Flüchtlinge und Kannibalen

Foreign Affairs 2016 – Jan Lauwers & Needcompany: The blind poet (Regie: Jan Lauwers)

Von Sascha Krieger

„Grace Ellen Barkey!“Immer und immer wieder ruft die Frau in den schwer definierbaren, aber irgendwie folkloristisch anmutendem Kleid und mit dem Kopfschmuck aus Blumen und Grünzeug ihren Namen. Es ist wie eine Beschwörung, ein Ritus, affirmativ, dann wieder komödiantisch, zuletzt still verzweifelt. Die anderen Spieler*innen, gewandet in Umhängen, wie man sie von Boxern kennt, feuern sie an, stimmen ein, zum Schluss vergessen sie die, deren Namen sie rufen, fasst. Mit diesem Akt der Selbstbehauptung, der Identitätvergewisserung und -erschaffung beginnt The blind poet, Needcomapany’s Abend über Identitäten, persönliche, kollektive, universelle. Zwei Schlüsselsätze gibt es, die eigentlich Satzanfänge sind: „Ich bin…“ und „Es ist wichtig, dass…“ Immer wieder hören wir sie in der Abfolge der sieben Porträts der Performer*innen, die den Abend auf der leeren Bühne strukturiert. Der erste setzt die gewählte Identität, der zweite definiert, was sie ausmacht. Grace Ellen Barkey etwa sucht ihr Ich in der Multikulturalität, bezeichnet sich als „multikulturelles Wunder“, Mohamed Toukabri dagegen ist das „monokulturelle Wunder“, Tunesier ohne bekannte andersweitige Wurzeln.

Bild: Maarten Vanden Abeele
Bild: Maarten Vanden Abeele

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Der Geier muss warten

Foreign Affairs 2016 – Handspring Puppet Company / William Kentridge / Jane Taylor: Ubu and the Truth Commision (Regie: William Kentridge)

Von Sascha Krieger

Der Geier ist schon da. Auf der linken Bühnenseite wartet er auf Beute. Aber nein, weder die geschäftige Hausfrau noch der abgehalfterte Mann im Unterhemd denken auch nur daran, sich zum Aasfresser-Futter machen zu lassen. William Kentridge verfrachtet Alfred Jarrys moderne – und um einiges blutigere – Wiedergänger des Ehepaars Macbeth ins Südafrika der jüngsten Vergangenheit. Er (David Minnaar)  ist ein Scherge des Apartheid-Systems, der unzähliche Menschen auf dem Gewissen hat, was ihn aber nur insofern stört, als man ihn womöglich dafür zur Verantwortung ziehen könnte. Sie – in einer spannenden Volte von der schwarzen Schauspielerin Busi Zukufa in traditionell anmutender Kleidung gespielt – verdächtigt ihn des Fremdgehens und nutzt die Wahrheit, als sie diese entdeckt, für ihre Zwecke aus. Am Ende segeln sie in eine glänzende Zukunft, nachdem er vor der Wahrheitskommission ausgesagt hat und ungeschoren davon gekommen ist. Der Geier geht leer aus, die Leichen sind schon längst entsorgt.

Bild: Luke Younge
Bild: Luke Younge

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Durch die Dunkelheit

Foreign Affairs 2016 – Franz Schubert/ William Kentridge: Winterreise, Festival d’Aix-en-Provence / Wiener Festwochen (Regie: William Kentridge)

Von Sascha Krieger

Beginnen wir mit dem vielleicht wesentlichsten: Matthias Goerne ist der vielleicht beste Liedsänger unserer Zeit. Die Kombination von stimmlicher Kraft, klanglicher Wärme und variabelster Ausdrucksfähigkeit erlaubt ihm, auch (vermeintlich viel zu) oft gehörtes immer neu erscheinen zu lassen, so als entstünde es just im Moment des Vortrags. Franz Schuberts „Winterreise“ hat er oft gesungen und schon zweimal aufgenommen – mit dem großen Alfred Brendel und dem nicht minder talentierten Christoph Eschenbach. Und doch gibt es wohl keinen Sänger, der die Dunkelheit, die Schuberts Zyklus so erschütternd macht, so farbenreich zum Leben erweckt wie Goerne. wenn er die „Winterreise“ singt, lebt er jede Zeile – das Liebessehnen, die Verzweiflung, die Sehnsucht nach dem Tode. Seine Stimme formt den Schmerz, die Wut, die Resignation, die Verzweiflung – mal kraftvoll, fast dröhnend, dann wieder berührend zart, innig, an der Grenze zur Stille. Markus Hinterhäuser begleitet ihn schnörkellos, reduziert, schlicht. Das wirkt zuweilen etwas blutleer, vor allem zu Beginn ein wenig schleppend und gibt Goerne doch ein solides Fundament für seine Wanderung durch das menschliche Dunkel.

Bild: Patrick Berger / Artcomat
Bild: Patrick Berger / Artcomat

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„Truth is beauty.“ Oder nicht?

Foreign Affairs 2016 – William Kentridge: Refuse The Hour

Von Sascha Krieger

„Thinking Aloud in Eight Movements“: Der Untertitel von William Kentridges trans- und multimedialer Performance ist Programm. Der etwa eineinhalbstündige Abend ist zum einen die Fortsetzung seiner „Drawing Lessons“, in denen er performativ wie theoretisch über Kunst sprach, zum anderen entspringt er seiner Documenta-Installation „The Refusal of Time“. Um die Zeit geht es und ihr Gegenstück, ihren Mitstreiter, ihr Alter Ego, den Raum. Zeit als Grundsubstanz des Kosmos, des Universums, des Lebens – und Zeit als Machtmittel des Menschen, als Instrument und Objekt seines Drangs nach Ordnung, nach Kontrolle, nach Unterwerfung. Kentridges Gegenprinzip ist die Unsicherheit, die „uncertainty“, der Zufall, das Zerfallen und Neuzusammensetzen. Darauf basiert Refuse The Hour, eine Mischung aus Geschichtenerzählen, Musik, Klanginstallationen, kinestischen Skulpturen, Tanz, Zeichnung und Videokunst. Vom Perseus, der die Hydra tötete, und ähnlich Odysseus, beim Versuch, der Prophezeihung des Orakels zu entgehen, diese erfüllte, erzählt Kentridge, von der Theorie des Raums als Archiv der Zeit – 500 Lichtjahre entfernt von uns schreibt Luther seine Thesen, aus 2000 Lichtjahren könnte man Jesus‘ Kreuzigung beobachten – aber auch von der Regulierung und Vereinheitlich der Zeit als Unterdrückungsmittel des Kolonialismus. „Give us back our sun“, singt Ann Masina. Die Ketten einer geordneten, diktatorischen Zeit gilt es zu sprengen – Refuse The Hour ist dieser Idee Experimentierfeld.

Bild: Jac de Villiers
Bild: Jac de Villiers

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„Nicht aufhören zu spielen“

Foreign Affairs 2016 – Frank Van Laecke, Alain Platel, Steven Prengels: En avant, marche!, NT Gent / les ballets C de la B (Regie: Frank Van Laecke, Alain Platel)

Von Sascha Krieger

Ein alter, bärtiger Mann schleppt sich auf die leere Bühne. Er setzt sich auf einen hölzernen Klappstuhl und schaltet einen CD-Player ein. Leise erklingt das sehnsuchtsvolle Lohengrin-Vorspoiel von Richard Wagner. Der Mann hat die Augen geschlossen, scheint versunken in die Musik. Bevor er plötzlich erwacht, ungeduldig vorspult bis nahe ans Ende. Denn da kommt, worauf er wartet: drei Beckenschläge, die einzigen des Stücks. Der Mann erhebt sich und betätigt sein Instrument, ernsthaft, ein wenig traurig. Welch ein Beginn, den Alain Platel für sein neues „Ritual“ – als solche sieht er seine Arbeiten bekanntlich – gewählt hat. Ganz beiläufig, wie improvisiert entsteht hier der Abend in nuce: eine ironische, spielerische Feier der Musik, der Kunst, des Lebens – in einem Moment tieftraurig und berührend, im nächsten hochkomisch, verschmitzt, ein fortwährendes Augenzwinkern. Wim Opbrouck ist dieser einsame Spieler, ein Bär von einem Mann und zugleich ein verspieltes, lebenshungriges Kind. Sein namenloser „Held“ ist eigentlich Posaunist, doch lässt ihn eine nicht näher spezifizierte Krankheit sein Instrument nicht mehr spielen. Sein Leben ist so rostig und todesnah wie die Kulissenwand mit ihren leeren Fensterhöhlen.

Bild: Phile Deprez
Bild: Phile Deprez

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Krieg der Dosen

Foreign Affairs 2015 – Forced Entertainment: Complete Works: Table Top Shakespeare (Regie: Tim Etchells)

Von Sascha Krieger

Es ist ein Festival des Marathontheaters, das Matthias von Hartz mit der diesjährigen Ausgabe von Foreign affairs auf die Beine gestellt hat. Deutlichster Ausdruck war natürlich Jan Fabers 24-stündiger Antikendurchlauf Mount Olympus am Eröffnungswochenende. Was die Gesamtlänge betrifft, liegt das britische kollektiv Forced Entertainment aber wohl noch einen Tick drüber: Der ganze Shakespeare soll es sein, 36 Stücke an neun Tagen. Das ist natürlich eigentlich nicht zu machen, gäbe es nicht einen Trick: „Table-top Shakespeare“ nennt die Gruppe um Tim Etchells das, was sie hier unternehmen. Dazu brauchen sie: je einen Darsteller, einen Holztisch und zwei Regale vollgestopft mit Alltagsgegenständen. Zwischen 40 Minuten und einer guten Stunde dauern die Performances. Das einfache Grundprinzip: Der Darsteller erzählt die Geschichte und stellt sie nach mit allerlei Gegenständen, welche für die Figuren stehen. Da wird Othello zur – natürlich schwarzen – Getränkedose, Romeo zur Taschenlampe, Hamlet zur Flasche und der zukünftige Henry V. zum Kerzenständer, wird aus dem Krieg der Rosen einer der Dosen. Sie sind alle da, die Hamlets und Macbeths und Richard bis hin zu den kleinen Nebenfiguren, die in den meisten Inszenierungen entfallen, die vollständigen Geschichten mit allen Handlungsstrengen und jeder Szene. Was fehlt, ist die Sprache. Shakespeares Worte finden sich nur in winzigen Zitaten, in vielen Aufführungen sind sie gar nicht vorhanden. So sucht der Zuschauer etwa das „To be or not to be“ vergeblich.

Foto: Vlatka Horvat
Foto: Vlatka Horvat

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Venezianischer Sandkasten

Foreign Affairs 2015 – Angélica Liddell / Atra Bilis Teatro: You Are My Destiny (lo stupro di Lucrezia) (Regie: Angélica Liddell)

Von Sascha Krieger

Leise, zaghaft hebt es an. Ein Trommeln, zunächst auf einigen wenigen Instrumenten, bald auf zehn großen Trommeln, anschwellend, lauter werdend, sich immer intensiver steigernd, bis es zu einer rhythmischen Raserei anwächst. Dazwischen umherirrend eine einzelne Frau, die zunehmend in Wallung gerät, in eine Art Rausch, bis sie einen Zustand der Ekstase erreicht, sich ihr Körper verkrampft in zuckenden Aufwallungen, weit jenseits rationaler Kontrolle. Minutenlang geht das, ein Zulaufen auf einen Höhepunkt, der zugleich stechender Schmerz ist. Wenige Minuten später: Im Wandsitz sind die zehn Männer an die Rückwand gepresst, zunächst stoisch und ruhig, dann erklingt das erste Stühlen, beginnen die Knie zu zittern, wird die Szenerie zu einem Ankämpfen gegen diesen Schmerz, einen Schmerz, den zuzulassen, Schwäche bedeuten würde. Und so harrt man aus bis zum Zusammenbruch. Es sind diese beiden, quälend langen und langsamen, beinahe wortlosen Szenen, die den Abend, den Angélica Liddell, auf die Bühne bringen will, am treffendsten charakterisieren. Um Begehren und Schmerz, um die Untrennbarkeit von Liebe und Leiden soll es gehen. Und so macht sie den Konflikt in der einen Szene erleb-, den Schmerz in der zweiten sichtbar.

Foto: Brigitte Enguerand
Foto: Brigitte Enguerand

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So klein der Mensch

Nach Michel Houellebecq: Les particules élémentaires (Regie: Julien Gosselin)

Von Sascha Krieger

Wer hätte das gedacht? Eigentlich, so erzählt uns der gerade 27-jährige französische Theatermacher Julien Gosselin ganz am Ende, ist der Roman Les particules élémentaires (Elementarteilchen) von Michel Houellebecq eine Würdigung des Menschen, mitsamt seiner Fehler, des ewigen Widerstreits von Vernunft und Trieb, der Zufälligkeit genetischer Disposition. Da stehen sie, die neuen, perfekten, Fortpflanzung und Individualität erhobenen Wesen auf der Bühne des Festivals „Foreign Affairs“ – wir schreiben das Jahr 20176 – und prosten der Menschheit zu. Es ist ein versöhnliches, beinahe optimistisch zu nennendes Ende, das der Intention des Autors, der seine irgendwo zwischen Utopie und Dystopie schlingernde Zukunftsvision durchaus ernst gemeint hat, womöglich nicht so ganz entspricht – dem Abend und der künstlerischen Interpretation des Stoffen durch den jungen Regisseur ist es durchaus angemessen.

Foto: Simon Gosselin
Foto: Simon Gosselin

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