>Bertolt Brecht: Die heilige Johanna der Schlachthöfe, Deutsches Theater, Berlin (Regie: Nicolas Stemann)

>Brecht ist in: Land auf, land ab wuchten Theater den Meister der Kapitalismuskritik auf die Bühne, um abzutasten, ob er nicht Antworten haben könnte auf die aktuelle Krise des Kapitalismus. Auch das Deutsche Theater macht da keine Ausnahme: Hat Michael Thalheimer nit seinem Puntila die Frage strikt verneint und aus Puntila einen Beckettschen Verlorenen gemacht, fällt die Antwort Stemanns sehr viel komplexer aus. Das liegt vor allem daran, dass er nicht an Brecht arbeitet, sondern mit ihm.

So nutzt Stemann Brechtsche Techniken, um sich dem Kern seiner „Johanna“ zu nähern. Schon der Beginn zeigt das: Drei Stühle, darauf Schauspieler mit Textbüchern in der Hand, diebeginnen, den Text zu rezitieren. Dabei kommt es zum Streit um die Rollen: Jeder will Mauler sein, da kann es schon handgreiflich werden. Wer es zum Mikrofon schafft, hat gewonnen, wenn auch nur kurz. Hier wird verfremdet, was das Zeug hält, lautet die Botschaft.

Auch Brechts Vorliebe, Botschaften in Songs zu packen, greifen Stemann und sein Komponist Thies Mynther auf, mit Hilfe gar eines zwanzigköpfigen Chors. Wie oft bei Brecht sorgt die Musik für Struktur und Rhythmus des Stücks. Auch der Einsatz von live erstellten Videos zur Illustration ist in Brechts Sinne, neigte er doch durchaus zum Plakativen.

Stemann dekonstruiert Brecht also nicht, er überträgt Brecht mit Brecht. Das ist kein Naturalismus, Figuren entstehen, lösen sich auf, multiplizieren sich. Da wechseln die Maulers oder sind plötzlich drei, da wir die Arbeiterwitwe zum kommunistischen Agitator, oder einer der Maulers zum Missionar oder zum egoistischen Arbeiter. Das immer wieder behauptete Gegeneinander von Arm und Reich, Oben und Unten wird gleichzeitig aufgelöst und bestätigt. Immer rasanter wandelt sich das flexible Bühnenbild, Orte wie Menschen werden austauschbar und erhalten dann doch wieder ihren festen Platz.

Spätestens hier trennen sich Stemanns und Brechts Wege und beantwortet sich die Ausgangsfrage: Brecht sieht im Duell von Maulers profitgetriebenem Opportunismus und Johannas christlich grundiertem Moralismus eine dritte Kraft, einen möglichen Ausweg: den Aufstand der Unterdrückten, die – kommunistische – Umwälzung der Verhältnisse.

Bei Stemann gibt es diese Gewichtung nicht: Alle Wahrheiten sind gleich viel oder gleich wenig wert: Maulers, Johannas, die der Kommunisten. Das entwertet sie nicht, im Gegenteil. Antworten kann keiner geben und so endet das Stück in Johannas ebenso überraschtem wie ratlosem „Huch“. Antworten auf die Krise, so sagt uns Stemann, kann Brecht vielleicht nicht geben, er kann aber – vielleicht – helfen, die richtigen Fragen zu stellen. Und das ist ja auch schon eine Menge wert.

Dennis Kelly: DNA, Deutsches Theater (box+bar), Berlin (Regie: Annette Pullen)

Ein Junge wird von einer Gruppe Mitschüler erniedrigt und gequält, das „Spiel“ eskaliert, der Junge stirbt (vermeintlich). Was dann passiert, ist Gegenstand des 2007 uraufgeführten Stückes, das Annette Pullen jetzt mit Schauspielschülern der Universität der Künste auf die Bühne gebracht hat. Eine leere Bühne mit einem einsamen hölzernen Hochsitz im Vordergrund. Auf dem sitzen die beredte Leah und der schweigsame Phil. Zwei, die zunächst gar nicht Teil der Gruppe sind, bald aber vom Sog der Ereignisse in deren Mitte gezwungen werden. Warum bleibt ebenso unklar wie vieles in diesem Stück.

Der Beginn ist stark, das tödliche Spiel mit Adam, dem Opfer, hervorragend choreographiert, ein brutaler, zynischer Tanz, der in Erstarrung endet, Adam steigt aus, die Zeit hält an. Danach vergibt Kelly jedoch die Chance, ein eindringliches Stück über Machtverhältnisse, Gruppendynamik, Mitläufertum, Feigheit und Angst zu schaffen. Was die Schuld den Schuldigen antut, bleibt Skizze, Andeutung, die Figuren werden nicht ausgearbeitet, sie bleiben Schemen, Typen im besten Fall. Die Darsteller machen das beste daraus, überzeichnen ein wenig, um den mageren Gehalt der Figuren sichtbar zu machen, doch was Bewegung, Entwicklung, Krise sein sollte, bleibt seltsam statisch.

Die stärksten Momente sind die stillen, in denen Pullen und ihr Ensemble ohne Kellys Text auskommen. Wie hier Angst und Hilflosigkeit, Schuld und Freude an Gewalt und Erniedrigung choreographiert wird, deutet an, wieviel mehr in diesem Stoff gesteckt hätte. Diese Momente machen ein Versprechen, das Kellys Stück nicht einlöst.

>Friedrich Schiller: Maria Stuart, Deutsches Theater, Berlin (Regie: Stephan Kimmig)

>England als eine Art Bungalow, luftig und doch karg und streng umfasst er Marias Kerker wie Elisabeths Palast. Er ist beider Gefängnis, ein Entkommen nicht möglich, nicht für die machtlose Gefangene und nicht für die mächtige Herrscherin. Schiller hat sein Drama als Plädoyer für die Freiheit angelegt, Stephan Kimmig reduziert es auf ein Kammerspiel über Einsamkeit und die Macht der Angst.

2007 hatte die Inszenierung in Hamburg Premiere, 2008 war sie zum Theatertreffen eingeladen, jetzt hatte sie am deutschen Theater Premiere. Mit einer gewichtigen Änderung: Anstelle von Paula Dombrowski steht jetzt Katharina Marie Schubert als Elisabeth auf der Bühne. Sie spielt die Königin als eine ständiger Spannung ausgesetzte Frau, stets kurz vor dem Zerreißen, wechselnd zwischen nervöser Überspanntheit und um sich schlagender Agression. Das ist teilweise an der Grenze zur Karikatur, und doch kippt es nie ganz ins lächerliche, denn die Angst, die sie treibt, ist nie weit von der Oberfläche.

Susanne Wolff als Maria ist eine Resignierte, die ihre Würde zu bewahren sucht, und trotzdem zum Spielball zwischen Angst und Hoffnung wird. Die Angst treibt sie in die Verzweiflung und häufiger noch in die Abstumpfung, die Kapitulation.

Angst ist das zentrale Handlungsmotiv und ihre Angenten sind Männer: Elisabeths Staatsrat ebenso wie der Möchtergern-Retter Mortimer. Sie sind weniger eigenständige Figuren als Repräsentanten verschiedener Tendenzen und Interessen, die auch in den Protagonistinnen aktiv sind.

Das Drama spielt sich in und zwischen den beiden Königinnen ab und es ist ein Drama der Einsamkeit. Ob Gefangene im Kerker oder von rivalisierenden Hofschranzen umgebene Königin: Einsamkeit umgibt beide in dieser sachlichen, kalten Welt. Und hier hat auch die Angst ihren Ursprung, die Elisabeth zur Mörderin werden lässt und zu einer, die andere für ihren Mord bluten lassen wird. es ist die Angst, allein gelassen zu werden von und in der Welt, eine existenzielle Angst, eine Angst vor der Auslöschung.

Und so triumphiert am Ende weder die siegreiche Elisabeth noch die gottergebene Maria. Burleighs Lachen, als er von Elisabeth zum Sündenbock gemacht wird, fasst es zusammen: Er, der Diener und Agent der Angst, ist der Gewinner, denn Elisabeth ist fest in ihrem Bann.

Dennis Kelly: Taking Care of Baby, Deutsches Theater (Kammerspiele), Berlin (Regisseur: Sascha Hawemann)

Eine Frau, deren zwei Kinder gestorben sind, ein Verdacht, eine Verurteilung, ein Freispruch in der Revision, ein umstrittener Psychiater und eine zerbrochene Familie: Das ist der Stoff, aus dem Dennis Kellys 2007 in London uraufgeführtes Stück ist. Und doch geht es um anderes: Um nichts weniger als die Wahrheit, ihre Möglichkeit oder Unmöglichkeit und die Frage, ob es so etwas überhaupt gibt. Oder besser: ob es die eine Wahrheit, einer der Grundfesten mesnschlichen Denkens und wohl auch Zusammenlebens überhaupt geben kann.

Kelly hat das Stück im Stile des dokumentarischen Theaters geschaffen. Wir hören O-Töne der Protagonisten, aufgezeichnet in Interviews und Briefen und auf die Bühne gebracht. Nichts sei geändert worden, so das Verdikt des Autors zu Beginn. Die Figuren bekommen Gelegenheit, ihre Geschichten zu erzählen,ihre Wahrheiten zu verkünden. Und ihre Stories sind in sich geschlossen und glaubwürdig. Kelly vergibt keine Sympathien oder versucht dies zumindest. bErsstellt diese Wahrheiten vor, statt sie zu bewerten. Am Ende entsteht ein polyphones Konzert sich widersprechender Wahrheiten, ohne dass ihre Wertigkeit unterschiedlich gewichtet wäre.

Und nicht nur das: Auch das Theater steigt in den Prozess des Hinterfragens von wahr- und Gewissheiten mit ein. Denn natürlich ist dies keine wahre Geschichte, sondern komplette Fiktion, auch wenn sie von tatsächlichen Fällen inspiriert ist. Doch: Die Interviews, die hier inszeniert werden, haben nie stattgefunden. Ein hochinteressantes und komplexes Stück.

Sascha Hawemann hingegen, Regisseur der deutschen Erstaufführung, macht es sich viel einfacher. Was bei Kelly ein Labyrinth persönlicher Wahrheiten ist, wird hier zum simplen, ja plumpen Gegensatz von Wahrheit und Lüge. Hawemann vergibt Sympathien, er macht klar, wer recht hat, welche Geschichte stimmt, er wertet, wo Kelly nur zeigt. Er bewertet die Wahrheiten und stellt damit die Gewissheit wieder her, die Kelly ja auflöst: dass es so etwas wie eine gültige Wahrheit geben kann. Und so wird Kellys Stück zur einfachen Parabelvon Wahrheit und Lüge, die nichts hinterfragt. Auch nicht die Rolle des Theaters. So wird der Autor zur Figur und das Ganze seines Kerns bereaubt. Was bleibt, ist ein großartiges Ensemble (Meike Droste, Moritz Grove, Michael Schweighöfer, um nur die herausragenden zu nennen) und die Erkenntnis, das Potenzial des Stücks verchenkt zu haben.

>Anton Tschechow: Krankenzimmer Nr. 6, Deutsches Theater, Berlin (Regie: Dimiter Gotscheff)

>Tschechow ist „in“. Ob Gotscheff, Thalheimer oder der viel zu früh verstorbene Jürgen Gosch: An Tschechow kommt das deutschsprachige Theater derzeit nicht vorbei. Ein Theater der Krise, ein Theater des Stillstands und des bevorstehenden Endes. Und doch ist ein anderer „Endzeitler“ der andere, heimliche dominierende Geist dieser Spielzeit: Samuel Beckett. Hat zunächst Thalheimer Brechts (ein anderer derzeitiger „In“-Autor – welches Theater hat seine Johanna in dieser Spielzeit eigentlich nicht inszeniert?) Puntila in einen Hamm oder Pozzo verwandelt, inszeniert Gotscheff jetzt Tschechow als Endspiel.

Die zugrundeliegende Erzählung ist nur der Rahmen, Gotscheff präsentiert eine geschlossene Gesellschaft des Tschechowchen Figuren-Universums, gestrandet in einer letzten Enklave einer endzeitlichen Welt. Das Irre, Andere, Ausgestoßene wird zum Drinnen, die Welt zum Draußen. Aber ist da überhaupt noch etwas oder sind die zunehmend eingeschlossenen allein? Und ist es überhaupt wichtig?

Noch ein Beckettsches Element: Es findet keine Handlung mehr statt, ja keine Interaktion. Wie die körperlosen Köpfe in Becketts Play ergehen sie sich in Monologen, einen Austausch gibt es nur noch rudimentär, zum Ende erstirbt er ganz. Das wäre pessimistisch und doch nur ein konsequentes Zu-Ende-Erzählen der Tschechowschen Welt. Und doch ist nicht alles verloren: Die Tschechowsche Ironie und Gotscheffs leiser Humor, der von Beckett und Müller stammt, sind noch da und mit ihnen so etwas wie Hoffnung?

Eine spannende Inszenierung, die handwerklich und dramaturgisch nahezu perfekt und schauspielerisch atemberaubend ist und die trotzdem nie wirklich berührt.

Dea Loher: Diebe, Deutsches Theater, Berlin (Regie: Andreas Kriegenburg)

Kriegenburg und Loher, das ist eine dramatische Liebesbeziehung, die Kriegenburgs Umzug von Hamburg nach Berlin überstanden hat und das Potenzial hat die des viel zu früh verstorbenen Jürgen Gosch mit Roland Schimmelpfennig zu ersetzen. „Diebe“ ist die erste gemeinsame Uraufführung am DT und es ist eine untypische – für Loher wie für das DT dieser Spielzeit: Denn was an dieser Inszenierung vor allem anderen auffällt, ist ihre Leichtigkeit. Das gilt für das Stück, das intelligent, durchaus vielschichtig, überraschend unterhaltsam und humorvoll geschrieben und dramaturgisch sehr gut strukturiert ist, ohne streng zu wirken.

Das gilt auch für die Inszenierung: Kriegenburg hat eine Bühne in Form einer rotierenden Mühle geschaffen. Das ist bildlich stark und stringend, drängt sich aber sich nie auf. Das Bühnenbild bestimmt und strukturiert die Aufführung und bleibt trotzdem im Hintergrund. Im Vordergrund stehen die Figuren, zu wechselnden Tableaus aufgereht, aber nie statisch, leblos. Kriegenburg akzentuiert die komischen Momente, ohne die tragischen zu verraten, auch in der Komik scheint immer eine gewisse Melancholie auf, ohne erstere zu erdrücken. Es ist eine leicht, fein nuancierte und angenehm ruhige Inszenierung, die berührt und unterhält – und vor allem trotz ihrer Länge nie langweilt.

>Friedrich Hebbel: Die Nibelungen, Deutsches Theater, Berlin (Regie: Michael Thalheimer)

>Was ist aus Thalheimer geworden, dem großen Stückesezierer, der Schicht um Schicht entfert, um den Kern freizulegen und auf die Bühne zu stellen? Für den Inszenieren einer Operation am offenen Herzen gleichkommt? Hat er bei seiner letzten DT-Inszenierung noch Brechts Puntila-Gebäude bis auf die Grundmauern niedergerissen (um allerdings feststellen zu müssen, dass da statt des vermuteten Fundements nur gähnende Leere ist), kratzt er hier nicht einmal an der Fassade, sondern stellt nur hohle Kulissen auf, die er aber in ihrer Hohlheit nicht entlarvt. Thalheimer recyclet: die klaustrophobische Bühne der Ratten, die Blutorgie der Orestie, und wie so oft ist die Kopie nur ein schwaches Echo. Sind seine Bilder, seine Gruppenaufstellungen dort noch mit Bedeutung aufgeladen und legen sie den Blick den von Thalheimer ausgegrabenen Kern, die Essenz, den Grund des Stückes frei, sind sie hier nicht nur schwächer – hinter ihnen verbirgt sich auch nichts. Da ist kein interpretatorisches Ansatz, da ist keine Richtung, in die das führt, da ist nicht mal Kunsthandwerk, sodern nur Handwerk. 3 Stunden Hilflosigkeit bei Regisseur wie Darstellern, drei Stunden ausdrucksloses Gebrüll, drei Stunden angestrengte Zuschauer.

Friedrich Schiller: Kabale und Liebe, Deutsches Theater, Berlin (Regie: Stephan Kimmig)

Die Bühne, ein Kasten voller Türen, in den Wänden, der Decke, dem Boden. 34 an der Zahl. Ein Sinnbild für die Ausweglosigkeit, in der sich die Protagonisten des Stückes wiederfinden? Zunächst durchaus eindrucksvoll, wenn auch etwas plump. Die Inszenierung: selten langweilig, kaum nervtötend, gut strukturiert, nicht ohne Ideen. Und doch ohne Idee. Wie so oft am DT in dieser Spielzeit, fragt sich der Zuschauer, was den Regisseur an dem Stück interessiert hat. Weder der Liebesgeschichte noch dem gesellschaftlichen Aspekt, der einen großen Teil des Programmhefts einnimmt, wird Leben eingehaucht. Alles bleibt Behauptung, Schein. Das ist sauber inszeniert, solides Handwerk, dem das Konzept fehlt. So bleibt eine textgetreue Abbildung, die weder bewegt noch im Gedächtnis bleiben wird. Und ein Ulrich Matthes, den man noch nie so gelangweilt sah.