„Ein Porno, in dem der Klempner wirklich nur die Spüle macht“

René Pollesch: Goodyear, Deutsches Theater, Berlin (Regie: René Pollesch)

Von Sascha Krieger

Natürlich ist nichts „normal“ an diesem Premierenabend, dem ersten in diesem Jahr, möglich gemacht durch das Pilotprojekt Testing des Berliner Senats. FFP2-Masken, gelichtete Zuschauer*innenreigen und ein ausgeklügerlter Einlass mit Ausweisvorlage und Schnelltestnachweis bürgen dafür, dass der Ausnahmezustand,d er gerade auch die Kultur seit Monaten lahmgelegt hat, noch nicht Geschichte ist. Und doch ist manches wie früher, wenn fünf Spielerinnen eine gute Stunde Lang René-Pollesch-Texte hin und her stoßen, als wären sie Billard Kugel. Weit ist der Himmel von Barbara Steiners Bühnenbild, unten glitzert der Asphalt. Eine Rennstrecke imagniert der Abend und steckt die Spiele*innen mal Rennfahreranzüge, mal in Witwenkleider. Leben und Tod sind allgegenwärtig und zugleich spielerische Abstrakta, Bälle, mit denen sich jonglieren lässt. Natürlich ist er reich an Zitaten, so manche Filmszee wird geplündert, die Formal-1-Geschichte dazu und ums Theater geht es eh immer.

Goodyear
Bild: Arno Declair

Mehr

Im ewigen Schneesturm

Nach Thomas Mann: Der Zauberberg, Deutsches Theater, Berlin – Livestream (Regie: Sebastian Hartmann) – eingeladen zum Theatertreffen 2021

Von Sascha Krieger

Stapfen sie durch den (imaginären) Schnee von Thomas Manns dystopischer Alpenlandschaft oder durch die Leere von Raum uns Zeit, die Linda Pöppel zu Beginn mit reichlich Rast- und Ratlosigkeit reflektiert? Eine geisterhafte Seilschaft hat Sebastian Hartmann da unsichtbar zusammengebunden auf fast leerer weißumwandeter Bühne. Hier ist alles Weiß: Die Wände, die Bodysuits (Kostüme: Adriana Braga Peretzki), die Gesichter, die Haare. Nur eine Art Gerüst ragt heraus – ein Ankerpunkt? Ein Galgen? Ein Kran? (Bühne: Hartmann) Es ist eine Art Danach, in dem die Spieler*innen, die Figurenfragmente agieren, aber eines, bei dem es kein Davor gibt. „Ist im Ewigen ein Nacheinander möglich?“, fragt Pöppel dann auch zu Beginn. Lässt sich die Zeit erzählen, will sie wissen, wenn sie denn nicht enden solle. Gleiches gelte für den Raum. Und so gibt es beide hier nicht und natürlich sind sie zugleich vorhanden. Denn dieser Abend spielt in der messbaren Zeit (er dauert genau zwei stunden) und er findet in einem Raum statt, der Bühne des Deutschen Theaters. Die aber eben auch ein Nichtraum ist, geschlossen, von den Zuschauenden nicht physisch betretbar, nur noch virtuell zu erahnen, in der Rezeption individuell zu erschaffen.

Bild: Arno Declair

Mehr

The Show Must Go On

Friedrich Schiller: Maria Stuart, Deutsches Theater, Berlin (Regie: Anne Lenk)

Von Sascha Krieger

Natürlich fällt es nicht leicht, diese Inszenierung zu rezensieren, als wäre sie ein ganz „normaler“ Theaterabend. Zum Zeitpunkt ihrer Premiere ist bereits klar, dass auf dieser wie auf allen anderen Bühnen des Landes mindestens vier Wochen lang nichts mehr gehen wird. Nach der dritten Aufführung sind die Lichter aus – wann die Bretter wieder zur Welt werden, lässt sich kaum vorhersehen. Da passt es, dass diese letzten gut zwei Stunden eine Übung in Isolation sind. Judith Oswalds Bühne ist eine Art Setzkasten, bestehend aus Boxen, in denen die Figuren – mit zwei Ausnahmen – stets für sich sind. Sie interagieren getrennt durch Wände, die sie immer wieder berühren, wie sehnend nach der Präsenz einer*s anderen. Doch sie bleiben getrennt, isoliert, gefangen in ihren persönlichen Gefängnissen. Ganz unten ist Maria, die Gefängniszelle eng und undurchdringlich, über ihr, in der größten Box, Elisabeth, die Herrschende, Entscheidende, ebenso isoliert und ausweglos. Um sie herum gruppieren sich die Männer, behende die Boxen wechselnd, was den Frauen nicht vergönnt ist. Wo letztere an ihren Plätzen und in ihren Rollen verharren müssen, dürfen erstere diese wechseln. It’s a man’s world.

Bild: Arno Declair

Mehr

„Theater der Trance“

René Pollesch: Melissa kriegt alles, Deutsches Theater, Berlin (Regie: René Pollesch)

Von Sascha Krieger

Nein, wer Melissa ist und was sie alles bekommt, erfahren wir in diesen 90 Minuten nicht. Wer sinch an den Stücktiteln von Pollesch-Abenden festhält, hat eh meistens verloren. Und so ist der Brief, dem die ersten Worte Kathrin Angerers, gesprochen noch hinter der weißen Vorhang-Gardine, gelten und der die titelgebende Aussage entält, schnell vergessen. Er ist ein Zitat, ein Überbleibsel des solche Trigger bedingenden Handlungstheaters, das Pollesch schon lange hinter sich gelassen hat und das er hier mal wieder genüsslich seziert. Der Brief als Handlungstreiber – er darf mit auf den Komposthaufen nicht benötigter Theatertropen. Auch wenn es mit allerlei russisch anmutenden Garderobenelementen – Fellmützen- und -mäntel spielen eine wesentliche Rolle anmutet, als wäre wir bei Tschechow oder zumindest Gorki: Der Fluchtpunkt dieses abends heißt Brecht. Es ist sein Vorhang, der zu Beginn aufgeht und wiederholt thematisiert wird, sein Theater, um das sich die Gesprächsschleifen immer wieder drehen und zu dem sie stets zurückkommen. Und es ist seine Frau, Helene Weigel, welche die zwei Themenkomplexe des Abends, so man von solchen sprechen kann, zusammenfügt: das Theater und die Revolution.

Bild: Arno Declair

Mehr

Die Leere ertragen

Nach dem Roman von Albert Camus: Die Pest (Open Air), Deutsches Theater (Vorplatz), Berlin (Regie: András Dömötör)

Von Sascha Krieger

Als András Dömötörs Adaption von Albert Camus‘ Roman Die Pest im vergangenen November Premiere in der Box des Deutschen Theaters hatte, war nicht abzusehen, dass der Stoff ein halbes Jahr später plötzlich vor Tagesaktualität triefen würde. Camus‘ existenzialistische Umkreisung des Bösen, von Dömötör auf die Thematik des menschlichen Drangs zu töten zugespitzt, sieht sich plötzlich zurückgeworfen auf ihr Setting, eine Pestepidemie in einer nordafrikanischen Stadt, die zwischen politschen Intrigenspielen, taktischer Handlungsverweigerung und populistischem Aktionismus eine tödliche Dynamik entfaltet, die weit über das Sterben am unbahrmherzigen Bazillus hinausgeht. Und die gleichzeitig doch genau dieses leiden, ein persönliches, hilfloses, herzbrechendes wieder in den Mittelpunkt rückt. Wenn die Inszenierung nun auf schwarzer Bühne auf dem DT-Vorplatz gespielt wird, ist sie eine andere geworden, weil nicht nur ihr physisches Umfeld sich verändert hat, sondern auch die Wirklichkeit, in der sie gelandet ist. Zum zweiten Mal: Bereits vor einigen Wochen, mitten im Lockdown, war sie adaptiert worden, als auf unter eine Stunde zusammengeschnurrte Online-Variante im leeren theater. Jetzt also Open Air. Mit Publikum, luftig verteilt, die Abstandsregeln wahrend.

Thater in Zeiten von Corona: Der DT-Vorplatz wird zur Bühne (Bild: Sascha Krieger)

Mehr

Liebe als Flickwerk

Kirill Serebrennikov nach Motiven von Giovanni Boccaccio: Decamerone, Deutsches Theater, Berlin / Gogol-Center, Moskau (Regie: Kirill Serebrennikov)

Von Sascha Krieger

Am Ende stehen sie wieder da, Ensemble, Crew, alle in den weißen „Free Kirill“ T-Shirts, die man von jeder Premiere des russischen Regisseurs Kirill Serebrennikov außerhalb seines Heimatlandes in den letzten Jahren kennt. Auch wenn der Hausarrest, des – wohl zweifellos zu Unrecht – wegen Veruntreuung von Geldern seines Moskauer Theaters Gogol-Center vor Gericht stehenden Künstlers aufgehoben ist, das Land darf er nach wie vor nicht verlassen. Und so fand ein Großteil der Proben seines lang erwarteten und bereits mehrfach verschobenen DT-Debüts in Moskau statt, besorgten Assistent*innen die Einrichtung auf der Berliner Premierenbühne. Natürlich schwingt die Entstehungssituation mist und beeinflusst die berechtigte Sympathie für den seit Jahren Repressalien ausgesetzten Theatermachers auch seine Rezeption in Deutschland und trägt sicher zum lang anhaltenden Applaus an diesem Abend bei. Zumal das Sujet, Giovanni Boccaccios Zyklus um 10 junge Menschen, die sich (freiwillig) in einem Haus verbarrikadiert haben, um der grassierenden Pest zu entgehen, nicht ohne Berührungspunkte zum (nicht freiwilligen) Eingeschlossensein des Regisseurs ist. Die „Pest“ im Sinne eingeschränkter Kunst- und Meinungsfreiheit, eines Systems, das eingrenzt, beschränkt, mundtot machen will, bestimmt auch Serebrennikovs Leben. In seiner Inszenierung findet sich davon jedoch nichts.

Bild: Ira Polyarnaya

Mehr

„Die Bretter, die den Wald bedeuten“

Junges DT – Nach Friedrich Schiller in einer Fassung von Joanna Praml und Dorle Trachternach: Die Räuber, Deutsches Theater (Kammerspiele), Berlin (Regie: Joanna Praml)

Von Sascha Krieger

Am Anfang steht das Erschrecken: Sind die echt? Sind die wirklich da? Sind wir nicht allein? 15 junge Spieler*innen haben gerade die Bühne betreten, die Bretter, die später den Wald bedeuten werden (das Wortspiel fällt tatsächlich), um die Proben zu Friedrich Schillers Die Räuber zu beginnen. Allein, eigenverantwortlich, ohne den Blick der Eltern, der Lehrer, der Gesellschaft. Und dann sitzen wir da, das Publikum, beobachten, zweifeln, werten. In Die Räuber geht es um vieles: Freiheit, Rebellion, Generationenkonflikte, Familiäres, die Emanzipation von Erwartungen und Druck der Eltern, der Gesellschaft. Themen, die nicht wirklich an Aktualität verloren haben, gerade für Menschen, die soeben in das zu starten scheinen, was ihnen die Älteren als Leben vormachen. Klar sollen sie ihren Weg finden, aber welche zur Verfügung stehen, nach welchen Regeln zu spielen ist und welche Rollen zur Auswahl stehen, entscheiden gefälligst wir die Gesellschaft. Und da sitzen wir jetzt, menschengewordener Druck, Be- und Abwertung, Einengung. Klar könnt ihr euer Ding machen – solange wir es uns erlauben.

Bild: Arno Declair

Mehr

Aber bitte mit Sahne

Nach dem Roman Die Wand von Marlen Haushofer: Sophie Rois fährt gegen die Wand im Deutschen Theater, Deutsches Theater, Berlin (Regie: Clemens Maria Schönborn)

Von Sascha Krieger

Eine Frau findet sich in einer Berghütte wieder, durch eine Wand abgeschnitten vom Rest der Welt, der Familie, jeglicher Mitmenschen. Sie lernt, selbstbestimmt zu leben, autark, für sich, sich selbst – mit Hund und Kuh – die Welt zu sein. Zivilisationskritik unterstellte man Marlen Haushofers 1964 erschienenem Roman Die Wand sicher nicht zu unrecht – er ist aber, wie das schlanke Programmheftchen klar macht, auch eine Emanzoiationsgeschichte, die einer Frau, die zu sich, zu Frieden und Klarheit findet, weil und indem sie sich löst, von allem, was zuvor ihr Leben bestimmte, kontrollierte, einengte, Rollenerwartungen, gesellschaftlichen Zwängen, familiären Institutionen. Am Deutschen Theater ist Sophie Rois nun diese Namenlose – oder besser, sie liest und spielt und spricht sich hinein in sie. Zu Beginn steht das ein grauer Zweisitzer auf der Bühne, davor ein Kaffeetischchen mit zei Tassen. Rois kommt herein, setzt sich, trinkt, zündet sich eine Zigarette an und liest. Zunächst den Klappentext, dann Passagen aus dem Buch. Eine Annäherung, zunächst distanziert, etwas gelangweilt, wenig enthusiastisch.

Bild: Arno Declair

Mehr

Textprobe mit Fragezeichen

Elfriede Jelinek: Wolken.Heim., Deutsches Theater (Kammerspiele), Berlin (Regie: Martin Laberenz)

Von Sascha Krieger

Elfriede Jelinek zu inszenieren, ist bekanntlich keine einfache Aufgabe. Das theatrale Potenzial ist in ihren rollenlosen Textflächen bestenfalls tief verborgen, jede*r Regisseur*in muss es für sich suchen, finden, heben, umwandeln in Theaterrealität. Jelinek schreibt Assoziationsketten, inszeniert Sprache, lässt sie von der Leine und ihre eigene Wirklichkeit, vielleicht sogar Wahrheit suchen, scheinbar formlos, mäandernd, ergebnisoffen. Nicolas Stemann, einer der großen Protagonist*innen des postdramatischen Theaters und Jelinek-Experte, löst das oft durch performative Textarbeit, die den Suchprozess der Texte spiegelt und befragt, Falk Richter versucht es mit grellbunter Collagentechnik, anderen, am erfolgreichsten vielleicht Michael Thalheimer, gelingt es, die Textbefragung in ihre eigene Theatersprache zu übersetzen. Auch Martin Laberenz hat Jelinek schon inszeniert, hier am DT. Wut war ein einigermaßen hilfloses Ausprobieren und Zitieren theatraler Möglichkeiten, anderer Regiehandschriften, und landete im Nirgendwo der Belanglosigkeit.

Bild: Arno Declair

Mehr

Wenn sich der Mensch aufbäumt

Sarah Kane: 4.48 Psychose, Deutsches Theater, Berlin (Regie: Ulrich Rasche)

Von Sascha Krieger

Auch in seiner ersten Arbeit am Deutschen Theater ist alles wie immer bei Ulrich Rasche: Menschen auf Laufbändern, in unablässiger Bewegung nicht von der Stelle kommend, sie sprechen rhythmisch, mechanisch, abgehackt, Sprache, Bedeutung hinterfragend im Prozess des Sprechens, ein nicht enden wollender Marsch ohne Anfang, ohne Ziel, hinter, unter den Text, hin zu vermuteten Wahrheiten oder zumindest den Fragen, die man gemeinhin die „großen“ Sennt, nach Sinn, Bedeutung, Existenz, Menschsein. Und doch ist alles anders: Der maschinelle aufwand ist stark reduziert, die Laufbänder vergleichsweise klein, die heben und sehnen sich nicht, verschieben sich nicht gegen einander, keine Materialschlacht, sondern das Mindestmaß, das nötig ist, um Rasches theater zu betreiben. Und noch etwas ist anders: Es ist kein Klassiker der dramatischen Literatur, den der Regisseur bearbeitet, keine Geschichte um Macht, Ohnmacht, das Geworfensein des Menschen in eine feindselige Welt, in der und mit der er umgehen, in der er sich positionieren muss, sondern ein Stück, das nach innen gewandter nicht sein könnte. Sarah Kanes letzte Arbeit vor ihrem Suizid mit 28 Jahren ist eine Auseinandersetzung mit sich selbst, der Depression, in deren Fängen sie sich befand, den Auswirkungen selbiger auf ihre Sicht auf die Welt und sich selbst, die Dunkelheit, die nicht Ruhe geben würde, bevor sie alles verschlungen hätte.

Bild: Arno Declair

Mehr