„mein schön deutsch sprach“

Theatertreffen 2022 – Nach Ernst Jandl: humanistää! eine abschaffung der sparten, Volkstheater Wien (Regie: Claudia Bauer)

Von Sascha Krieger

Bevor das erste Wort gesprochen wird, ist, wenn nicht alles, so doch vieles bereits gesagt. In einem kleinen kalten wartezimmerartigen Raum inmitten einer grauen Wand ergeht sich ein Paar in einem Abendessen-Crescendo. Angetrieben von langsam anschwellender, rhythmusdurchpulster minimalistischer Musikbegleitung aus dem kleinen Orchestergraben steigert sich das Ballett des Brotschmierens und Anstoßens in immer groteskere Überzeichnungen, in zunehmend bizarrere ekstatische Bewegungsorgien bis zur totalen Eskalation und vollständigen Erschöpfung. Gespielt von wechselnden Darsteller*innen zeichnet die mehrminütige Sequenz die körpersprachliche Miniatur einer Beziehung am Abgrund, die as dem Ruder läuft, bis jede Fiktion eines alltäglichen Miteinanders vollständig ad absurdum geführt ist.  Ein atemlos absurdes Körpertheater, das kein Auge trocken und keine Eskalationsstufe ungesagt lässt.

Bild: Nikolaus Ostermann/Volkstheater

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Im (Un)Möglichkeitsraum

Nach Ovid & Kompliz*innen: Metamorphosen [overcoming mankind], Volksbühne Berlin – Digital-Premiere (Regie: Claudia Bauer)

Von Sascha Krieger

Wie macht man im Lockdown Theater? Für wen? Und mit welcher Form der Rezeption im Blick? Fragen, die sich seit zehn Monaten immer und immer wieder stellen, ein ständiger Slalom zwischen künstlerischer Entscheidung, pragmatischem Kompromiss und dem Prinzip Hoffnung. Setzt man auf rein digitale Formen? Inszeniert man für das Publikum, das irgendwann hoffentlich wieder da sein wird? Oder sucht man hybride Formen, wie Sebastian Hartmann, der am DT seinen Zauberberg als Digitalpremiere zwar auf die – leere – Bühne brachte, aber mittels Live-Videoperformance in mehr als einen Theater-Stream transformierte. Claudia Bauer entscheidet sich bei ihrer Ovid-Adaption für Option 2. Ihre „Digital-Premiere“ ist wenig mehr als eine abgefilmte Aufzeichnung (anders als bei Hartmann findet sie nicht live statt). Ist das überhaupt Theater? Basiert dieses nicht im Kern auf der Ko-Präsenz von Performance und Zuschauenden – wenn schon nicht räumlich, dann zumindest zeitlich? Es ist vielleicht die Hoffnung auf Theater, seine Ankündigung, sein Teaser. Ein Abend geschaffen für ein anwesendes Publikum, was man so mancher Pointe, so manchem Moment, der für die Reaktion einen Live-Publikums konzipiert ist, anmerkt. Da ist eine Leerstelle, die aber nicht zum Thema wird, die ignoriert bleibt in diesem Theater-Trailer.

Bild: Julian Röder

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Deutschland, eine Geisterbahn

Nach Heiner Müller: Germania, Volksbühne Berlin (Regie: Claudia Bauer)

Von Sascha Krieger

„Der Mund entsteht mit dem Schrei“. Heiner Müllers Exkurs, der Edvard Munchs berühmtes Gemälde mit den Schrecken des diesem folgenden Jahrhunderts, bezogen auf und ausgehend auf des autors Heimatland Deutschland, assoziiert, steht, wie er sollte, am Ende dieses dreistündigen Abends, an dem Claudia Bauer nahezu Unmögliches versucht. Nicht nur will sie seine beiden monströsen Germania-Stücke, jenes frühere sich am Stalismus abarbeitende, und das aus der Nachwendezeit, das nochmal den Bogen ganz weit zurückschlägt in die in die Gegenwart wirkende deutsch-preußische Geschichte, zusammenbringen. Nein, ihr schwebt auch vor, das Müllersche Geschichtsverständnis, seine Ansichten zur Menschheit und ihrer vermeintlichen Entwicklung, die in diesen Arbeiten besonders am Werk sind und auch thematisiert werden, in Theater zu übersetzen. Das kann nur scheitern, die Frage ist nur, auf welchem Niveau. Der Aufwand den Bauer in ihrer ersten Volksbühnen-Regie betreibt, ist beträchtlich: Neben dem achtköpfigen Ensemble stehen ein Orchester, drei Sängerinnen, ein Chor und eine Hand voll Puppenspieler*innen auf der Bühne. Totaltheater nennt man das wohl, spartenübergreifend, allumfassend.

Bild: Julian Röder

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Leihbonbons an Salatsoße

Theatertreffen 2019 – PeterLicht nach Molière: Tartuffe oder das Schwein der Weisen, Theater Basel (Regie: Claudia Bauer)

Von Sascha Krieger

Wenn am Ende das eine oder andere Buh durch den riesigen Zuschauerraum des Hauses der Berliner Festspiele hallt, weiß die Theatertreffen-Jury meist, dass sie etwas richtig gemacht hat. Eine Festival-Ausgabe ohne leidenschaftlich gespaltene Publika wäre eine triste Veranstaltung. Die Parade der „bemerkenswertesten“ Inszenierungen eines Theaterjahr ist auch deshalb so bedeutend geblieben, weil sie immer wieder Kontroversen, Streit, Debatten ausgelöst hat, weil sich über nichts so trefflich diskutieren lässt wie darüber, ob die gerade erlebten zwei, drei, vier, zehn Stunden das Großartigste war, was man je sehen durfte – oder der letzte Sargnagel für das deutschsprachige Theater. Nach diesen Kriterien ist Claudia Bauer und PeterLichts Molière-Überschreibung ein würdiger Theatertreffen-Kandidat. Die Gefahr, Zuschauer*innen kalt oder indifferent zu lassen, besteht kaum. Im Guten wie im Schlechten.

Bild: Priska Ketterer

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Erinnerung als Geistertanz

Nach Peter Richter: 89/90, Schauspiel Leipzig (Regie: Claudia Bauer) – eingeladen zum Theatertreffen 2017

Von Sascha Krieger

„Hätte man damals schon sagen können, wer dort eines Tages wem einen Baseballschläger über den Kopf hauen würde?“ Oder wer Karriere machen würde und wer an seiner Drogensucht krepieren? Ein verkramtes Hinterzimmer ist in Claudia Bauers Adaption von Peter Richters Wenderoman 89/90 Schauplatz dieser Fragen. Inmitten von alten Fotos und Erinnerungsstücke wühlen sich zwei heutige Mittvierziger hinein in diese Zeit, in der alles zusammenbrach und neu entstand, in der für einen kurzen historischen Moment alles möglich schien – auch und gerade das Unmöglich. Die üblichen DDR-Utensilien, sie liegen verstreut herum, ein paar Karo-Zigaretten, eine Flasche Altenburger Korn. Aber um sie geht es hier nicht, sie spielen keine Rolle. FDJ-Hemden sucht man vergeblich, kein Trabi rattert. Nein, die Bebilderung mit dem Altbekannten, dem klischeehaft Erwarteten, die Bedienung des (n)ostalgischen Wiedererkennungseffekts, sie findet hier nicht statt. Die realistische Darstellung der DDR-Vergangenheit – oder zumindest unserer (verklärten?) kollektive Erinnerung daran – ist oft genug versucht worden, Claudia Bauer interessiert sie nicht. Nein, ihr geht es um den Erinnerungsprozess selbst und um die Annäherung an eine Zeit – erinnert, real, irgendetwas dazwischen? – die denen, die nicht dabei waren, zuweilen so fremd wie ein Science-Fiction film erscheint.

Bild: Rolf Arnold

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Mit offenen Augen

Das Theatertreffen 2017 gibt seine Auswahl bekannt

Von Sascha Krieger

Natürlich lässt sich auch über den neuesten Theatertreffen-Jahrgang trefflich herziehen. Einfach macht es die Jury dem Nörgler jedoch nicht. Die Zahl der übergangenen Inszenierungen, die es unbedingt ins Festspielhaus hätten schaffen müssen, ist überschaubar. Eigentlich fehlt nur Christoph Marthalers Volksbühnen-Abschied wirklich, auch wenn Sebastian Hartmanns Berlin Alexanderplatz oder Thomas Ostermeiers Professor Bernhardi vermutlich keine Proteststürme ausgelöst hätten. Das Spektrum ästhetischer Ansätze ist groß, vier Debütanten sind dabei, zwei Häuser, die erstmals eingeladen sind, die angebliche „Provinz“ ist ebenso dabei wie die „neuen Länder“ und die freie Szene. sogar zwei fremdsprachige internationale Produktionen haben es geschafft, so manche Stückentwicklung ebenso. Einen geografischen weißen Fleck gibt es: Aus Österreich ist diesmal keine Inszenierung eingeladen. Eigentlich schön, dass die Jury offenbar wenig Proporzdenken an den Tag legte. Einzige Leerstelle: Weibliche Regisseurinnen, in den letzten Jahren das Rückgrat des Theatertreffens, fehlen diesmal fast ganz. Ein Makel, sicher, aber einer, den so manches an der Auswahl aufwiegt.

Die Jury bei der Bekanntgabe der Auswahl (Bild: Sascha Krieger)
Die Jury bei der Bekanntgabe der Auswahl (Bild: Sascha Krieger)

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Wenn das Nichts singt

Autorentheatertage 2014 – Wolfram Höll: Und dann, Schauspiel Leipzig (Regie: Claudia Bauer)

Von Sascha Krieger

Selten kam ein dramatischer Erstling mit so vielen Vorschusslorbeeren daher wie Und dann des geborenen Leipzigers Wolfram Höll. Schon vor seiner Uraufführung hatte der Text Preise bei zwei der wichtigsten Autorenfestivals des deutschsprachigen Theaters abgeräumt – den Hörspielpreis des Stückemarkts beim Theatertreffen und den erstmals vergebenen nachwuchspreis beim Heidelberger Stückemarkt, beide 2012.Da fehlte nur noch der Mülheimer Dramatiker Preis, den Höll vor wenigen Tagen gewann. Die Erwartungshaltung ist beim ersten Berliner Gastspiel der Leipziger Uraufführungsinszenierung entsprechend groß – und gerechtfertigt. Denn was Höll, 1986 geboren, per Schreibmaschine aufs Papier gebracht hat ist, schlicht atemberaubend. Eine ostdeutsche Nachwendegeschichte, eine Familie, die mit den großen geschichtlichen Umwälzungen ebenso klarkommen muss wie mit einer noch größeren privaten Abwesenheit: dem Verlust der Mutter. So weit, so unspektakulär. Doch die Geschichte tritt schnell in den Hintergrund, die Sprache selbst ist hier Protagonist und Gegenstand der Auseinandersetzung. Sie ist Schauplatz und Akteur, sie ist Labyrinth und Ausweg zugleich.

Spielort des Gastspiels von Und dann: die Kammerspiele des Deutschen Theaters (Foto: Sascha Krieger)
Spielort des Gastspiels von Und dann: die Kammerspiele des Deutschen Theaters (Foto: Sascha Krieger)

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