Die Liebe erzählen

Theatertreffen 2022 – Frei nach Dante Alighieri, Meat Loaf und Britney Spears: Das neue Leben. where do we go from here, Schauspielhaus Bochum (Regie: Christopher Rüping)

Von Sascha Krieger

Eine gute Nachricht. So heißt das Lied von Danger Dan, mit de der Abend endet. Nach und nach bewegen sich die fünf Spielenden an die Rampe, stimmen ein oder lächelskeptisch hoffnungsvoll ins Publikum. Alles wir enden, erzählt das Lied, doch die gute Nachricht sei: „Heute nicht. Es bleibt noch Zeit für dich und mich.“ Für die Liebe. Oder ihren Versuch, Oder den Traum von ihr. „Ich will nicht, dass es echt wird“, sagt Damian Rebgetz einmal, „Ich will, dass es vollkommen bleibt.“ Man muss nicht, wie dieser Rezensent, eine längere Corona-bedingte Theaterpause eingelegt haben, um die Zeit, aus der wir vielleicht gerade herauszufinden versuchen, stets mitzudenken in diesen gut zwei Stunden. Theater als Neuanfang, als neues Leben, als Wiederfunden und doch nicht recht greifen Können der Liebe. Zu Menschen, zum Leben, zu Welt, zu sich selbst.

Das neue Leben. Where do we go from here
Bild: Joerg Brueggemann / Ostkreuz

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„Kein Recht auf Versöhnung“

Theatertreffen 2021 – Nach Jean-Luc Lagarce: Einfach das Ende der Welt, Schauspielhaus Zürich – Livestream (Regie: Christopher Rüping)

Von Sascha Krieger

Theater in der Corona-Zeit ist auch und zunächst einmal Selbstvergewisserung. Solange Spielende und Zuschauende zwar Zeit, aber nicht Raum teilen, ist erst einmal sicherzustellen, dass beide überhaupt da sind. Theater heißt auch auszuhalten, sagt Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, in sener Erffnungsrede des Theatertreffens. Sitzt das Publikum zuhause, ist es kein Problem, einfach auszuschalten, gilt diese Verabredung dann noch? Ist da noch jemand, zu dem man spricht? In der Eröffnungsinszenierung dieser erneut digital und damit irgendwie auch nicht stattfindenden Festivalausgabe blickt Benjamin Lillie erst einmal in die Kamera, sich zu vergewissern suchen, dass da auch jemand ist, nicht wissend, ob diesauch der Fall ist. Es ist ein Kern dieses Abends, den es zweimal gibt: als Publikumsversion – in Zürich dürfen bereits wieder jeweils 50 Zuschauende ins Theater – und als Livestream. Regisseur Christopher Rüping hat sich entschieden, beide zu trennen, sich zu fokussieren, zu wem man spricht und agiert, nicht so zu tun, als wäre das eine mit dem anderen zu verschmelzen. Digitales Theater ist nicht analoges – eine Erkenntnis, die auch nach über einem Jahr Pandemie noch nicht überall angekommen scheint.

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Bild: Diana Pfammatter

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Der Klang des Zweifels

Heinar Kipphardt: In der Sache J. Robert Oppenheimer, Deutsches Theater, Berlin (Regie: Christopher Rüping)

Von Sascha Krieger

Es wirkt fast wie abgesprochen: Am Vortag hatte neben an am Berliner Ensemble Brechts Galileo Galilei Premiere, dessen ursprüngliche Feier von Vernunft und Wissenschaft sein Autor auch unter dem Eindruck der Atombombe zu einer Diskussion über Verantwortung und die Missbräuchlichkeit menschlicher Forschung weiterentwickelte – da widmet sich das Deutsche Theater auch schon dem Erfinder selbiger apokalyptischer Waffe, dem amerikanischen Physiker J. Robert Oppenheimer. Heiner Kipphardts Stück dreht sich um die Sicherheitsanhörung Oppenheimers im Jahr 1954, bei der dem Wissenschaftler unter anderem seine Nähe zu Kommunist*innen und insbesondere die Skepsis bezüglich der Entwicklung einer Wasserstoffbombe zum Vorwurf gemacht wurden. Basierend auf den Anhörungsprotokollen zeichnet der Pionier des Dokumentartheaters das Bild eines Menschen, der mit den Widersprüchen der modernen Wissenschaft ringt – auf der einen Seite der unbedingte Forschungsdrang und Neuerungswillen, auf der anderen die Verantwortung für die Folgen der eignen Arbeit. Ihm Gegenüber steht auf der einen Seite ein zunehmend paranoider Sicherheitsapparat, den ausschließlich die Ergebnisse der Arbeit interessieren, und auf der anderen Kollegen wie Edward Teller, Entwickler der H-Bombe, für den die Folgen wissenschaftlicher Arbeit irrelevant sind und der die Autonomie der Wissenschaft einfordert.

Bild: Arno Declair

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Welt. Leben. Mensch.

Christopher Rüping: Dionysos Stadt, Münchner Kammerspiele (Regie: Christopher Rüping) – eingeladen zum Theatertreffen 2019

Von Sascha Krieger

Das antike Theater war eine anstrengende Sache: In seiner Athener Blütezeit war es eingebettet und große, mehrtägige Feierlichkeiten, etwa die Großen Dionysien, gewidmet dem Gott des Weines, des Rausches, des Feierns, der eher körperlichen Freuden, bei denen sie einen wesentlichen Programmpunkt bildeten. Allein das Tragödienprogramm war umfangreich (und wurde selbst noch von dem der komödien übertroffen): Drei Dichter bestritten je einen Tag – mit jeweils drei tragischen Stücken und einem abschließenden Satyrspiel. Gut, dass der Verdienstausfall der Zuschauer*innen ausgeglichen wurde. Hieran will Christopher Rüping nun anschließen: „10 Stunden Antike“ verspricht er (am Ende sind es „nur“ neuneinhalb), drei Teile mit tragischen Stoffen gibt es, am Ende noch einen leichteren, ein „Satyrspiel“ neuerer Prägung. Dionysos Stadt nennt er sein Projekt, Bezug nehmend auf den dionysischen Ursprung des Theaters und seiner Einbettung in Feiern des ekstatischsten aller olympischen Götter – aber auch auf die wesentliche Funktion des Theaters in der athenischen Stadtgesellschaft, eines kommentierenden, die großen Fragen des Menschseins anreißenden, aber auch eines selbst gemeinschaftsbildenden.

Bild: Julian Baumann

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Ich ist alle Anderen

Benjamin von Stuckrad-Barre: Panikherz, Thalia Theater, Hamburg (Regie: Christopher Rüping)

Von Sascha Krieger

Da nahen sie. Wieder? Die schwankenden Gestalten. Aus dem Nebel. Der Erinnerungen? Der Drogenräusche und Selbstzerstörungsroutinen? Es ist auch nur eine Gestalt, die da zu Worten aus Goethes Faust herantaumelt. Die Figur eines Journalisten und Autors, Pop-Stars und Drogensüchtigen, die Hauptfigur von Benjamin von Stuckrad-Barres autobiografischem Buch Panikherz, bei der man nicht den Fehler machen sollte, sie mit dem Autor selbst zu verwechseln. Christopher Rüping vermeidet ihn in seiner Hamburger Inszenierung denn auch. Sie folgt auf Oliver Reeses Berliner Uraufführung. Wo dieser seinen Abend, seine Ich-Analyse und -Neudefinition aus dem Lieblingsmedium des ehemaligen Plattenkritikers, der Musik, ableitete, sucht sich Rüping tief in den Text hinein, in den Akt des Erzählens als Kern der Identitätsschaffung. Die bei ihm – wie bei Reese – eine aufgespaltene ist. Gleich sieben Benjamins bevölkern die Bühne in unterschiedlichen Konstellation. Sie repräsentieren unterschiedliche Lebensphasen, manche die zurückblickende Gegenwart, andere die herbei imaginierte Vergangenheit.

Bild: Sascha Krieger

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Alles Theater?

Von/nach Bertolt Brecht: Trommeln in der Nacht, Münchner Kammerspiele (Regie: Christopher Rüping)

Von Sascha Krieger

Eigentlich ein schöne Geschichte: Als erstes Stück Bertolt Brechts erblickte Trommeln in der Nacht im Jahr 1922 das Bühnenlicht – an den Münchner Kammerspielen. Einige Wochen später war es erstmals in Berlin zu sehen – am Deutschen Theater. Christopher Rüpings Münchner Inszenierung schließt jetzt beide Kreise: Herausgebracht an den Kammerspielen erlebt sie ihr Theatertreffen-Gastspiel an dem Ort, an dem Brechts Theater zum ersten Mal in Berlin zu sehen war. Das ist keine Vorgeschichte, sondern bereits der Kern den Abends. Nils Kahnwald erzählt die Geschichte, ein gelangweilter Conférencier, in einen von der Decke hängendes Mikrofon sprechend. Ein Die-Vergangenheit-Herbei-Erzähler. Und während er so spricht und die Uraufführungsinszenierung beschreibt ersteht das Bühnenbild, von dem er gerade berichtete, bauen Bühnenarbeiter*innen eine angedeutete Wohnzimmeridylle auf, dahinter expressionistisch verzerrte Großstadt-Silhouetten aus Pappe, darüber der berühmte rote Mond. Das Theater als Zeitmaschine, die flüchtigste aller Kunstformen als Instrument der Erinnerung, der Bewahrung des längst Vergangenen.

Bild: Julian Baumann

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Zurück ins Schneckenhaus

Zur Auswahl des Theatertreffens 2018

Von Sascha Krieger

Was war das für ein Theatertreffen-Jahrgang 2017. Starke, richtungweisende Regiekonzepte, radikale Ästhetiken, Rahmen sprengende Erzählweisen, theatrale Grenzgänge und -erfahrungen. Eine Leistungsschau des deutschsprachigen Theaters ohne Scheuklappen, die nach vorne wies und in die Welt hinaus. Internationale Arbeiten waren dabei, große wie kleine Häuser, reihenweise Neulinge, ein atemberaubendes Spektrum theatraler Ausdrucksformen. Die Latte lag hoch für die diesjährige Jury. Würde sie dort anknüpfen, wohin sie das Theatertreffen, das in der Vergangenheit viel zu oft Nabelschau der großen Bühnen und Namen war, Hort des Staats- und Stadttheaters, Besitzstandswahrer der Subventionskönige? Nicht selten ist es im Leben so, dass auf zwei Schritte nach vorn einer zurück folgt, doch so brutal, wie die diesjährige Jury das Theatertreffen-Vehikel an die Wand fuhr, stockt dem eigentlich geneigten Beobachter der Atem. Wo ist der Geist des Aufbruchs, die Neugier, die Experimentierfreude, welche die letztjährige Auswahl auszeichnete?

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Die Jury des Theatertreffens 2018 (Bild: Iko Freese / drama-berlin.de)

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Alles nur Show?

Nach Sinclair Lewis: It Can’t Happen Here, Deutsches Theater (Kammerspiele), Berlin (Regie: Christopher Rüping)

Von Sascha Krieger

Hier kann das nicht passieren. Schriebe man eine Geschichte der größten politischen Katastrophen der Menschheitsgeschichte, könnte dieser Satz immer wieder auftauchen. Zu glauben, etwas Schreckliches, das woanders geschehen ist, könne sich dort, wo man sich gerade befindet, nicht wiederholen, ist was man im Englischen ein „recipe for disaster“ nennt, der sicherste Weg, genau dies auch hier geschehen zu lassen. Unter diesem Titel, It Can’t Happen Here, veröffentlichte Sinclair Lewis, Amerikas erster Literaturnobelpreisträger, bereits 1935, zwei Jahre nach Hitlers Machtübernahme in Deutschland, einen Roman, mit dem er der damals verbreiteten Überzeugung, in Amerika wäre so etwas nicht möglich, entgegentreten wollte. Darin strebt ein windiger Entertainer namen Buzz Windrip mit grellen populistischen Losungen, Rassismus, Sexismus und Hass gegenüber Minderheiten, Anti-Intellektualismus und Angriffen gegen vermeintliche Eliten und die Presse nach der Macht – und gewinnt sie! Man muss wohl nicht weiter ausholen, um zu verstehen, was Christopher Rüping dazu gebracht haben mag, diese heute kaum noch bekannte Werk gerade jetzt auf die Bühne zu bringen. Ein Showman, der sich als Anti-Politiker geriert und zum Tribun der „vergessenen kleinen Leute“ aufschwingt – klingt das nicht irgendwie bekannt?

Bild: Arno Declair

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Wir sind die Leere

100 Sekunden (wofür leben), Deutsches Theater/Kammerspiele, Berlin (Regie: Christopher Rüping)

Von Sascha Krieger

Ein bisschen irreführend ist der Titel des abends ja schon, zumindest der in Klammern stehende Teil. Darum, wofür es sich zu leben lohne, geht es weniger, das Thema ist eher, wofür man bereit ist zu sterben. Viel Zeit ist nicht, 100 Sekunden stehen zur Verfügung für die Geschichten von Menschen, die sich opfern und opfern lassen – für Religion, Politik, Freiheit, Liebe. Da steht die neunfache Mutter, die zur Selbstmordattentäterin wird, neben Mohamed Bouazizi, der sich aus Protest selbst verbrannte und damit den „Arabischen Frühling“ auslöste, hören wir vom sich zu Tode hungernden RAF-Terroristen Holger Meins und dem französischen Politiker Jean Moulin, der starb, bevor die Gestapo ein Geständnis erfolgen konnte, lernen wir den weißrussischen Atomkraft-Fan kennen, der mit seiner Familie nach Tschernobyl fährt und den syrischen Wissenschaftler, der für das Welterbe von Palmyra starb. Und dann ist da Magda Goebbels, die sich selbst und ihre sechs Kinder opferte, als ihre nationalsozialistische Welt unterging. Weit geht es zurück, zu Leonidas‘ aussichtslosem Kampf gegen die Perser, zu Johanna von Orléans und zu Abraham und Isaac. Eine stimme aus dem Off zählt die zeit herunter, sind die 100 Sekunden vorbei, ruft sie unerbittlich „Stop“, bis der Erzählende verstummt.

Die Kammerspiele des Deutschen Theaters (Foto: Sascha Krieger)
Die Kammerspiele des Deutschen Theaters (Foto: Sascha Krieger)

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Die im Konfettiregen stehen

Theatertreffen 2015 – Nach dem Film von Thomas Vinterberg und Mogens Rukov: Das Fest, Schauspiel Stuttgart (Regie: Christopher Rüping)

Von Sascha Krieger

Ein 60. Geburtstag, der älteste Sohn bringt einen Toast auf den Vater aus. Er spricht ruhig, emotionslos, würdigt den Vater, erzählt aus der Kindheit, von den vielen Malen, die der Vater ihn, den Sohn, und seine Schwester, die nicht lange vor diesem Fest Selbstmord beginn, missbrauchte, vergewaltigte. Da ist keine Änderung im Tonfall, nichts verändert sich, die Familie, der Vater, lauschen so andächtig wie vorher. Und doch ist alles anders. Es ist der Schlüsselmoment in Thomas Winterbergs Film Das Fest, dem ersten und wohl auch besten der dänischen Purismusbewegung Dogma 95, und er ist es auch in Christopher Rüpings so gänzlich anderer Bühnenadaption am Schauspiel Stuttgart. Das Kammerspiel von Verdrängung, Schweigen und gewalttätiger Jagd auf den Nestbeschmutzer – es wird unter Rüpings Händen zum großen, bunten Diskurs über die narrativen Techniken, auf denen der zentrale Mythos unserer Gesellschaft fußt, jener von der Familie als Keimzelle, Schutzraum, Zuhause. Er beginnt mit sechs in Grau gekleideten Schauspielern, die am Bühnenrand Mitverschwörern, die das Publikum sind, die Geschichte der Familie vortragen, um die es geht. Von der Steinzeit reicht sie ins Heute, eine Geschichte der Pioniere, der Vordenker und Kämpfer, der Visionäre und Widerständen, der Forschenden und Mutigen. Die gerade nicht sprechen stellen die Stationen bildlich nach zu einer grotesken, albernen, ironischen Parodie auf eine Geschichte, die die Identität des Einzelnen aufzubauen sucht auf dem Verschweigen der dunklen Seiten.

Foto: JU_Ostkreuz
Foto: JU_Ostkreuz

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