Die wiedergewonnene Stimme

Musikfest Berlin 2022 – Yannick Nézét-Séguin dirigiert das Philadelphia Orchestra mit Lisa Batiashvili

Von Sascha Krieger

Fast könnte die*der nicht ganz so aufmerksame Zuhörende meinen, er lausche Klängen Antonín Dvořáks, so sehr erinnert die Mischung aus amerikanischer Liedsprache und hochromantischer Symphonik dem Werk des Tschechen aus seiner US-amerikanischen Schaffensphase. Doch nein, was hier zu hören ist, ist nicht die nicht unproblematische Aneignung und Übersetzung teilweise nicht-weißer Musikkultur durch den berühmten Komponisten, sondern eher ein „Reclaiming“ dieser musikalischen Welten durch eine Schwarze Frau, die lange vergessene Komponistin Florence Price, deren erste Symphonie das Philadelphia Orchestra zu seinem Gastspiel in Berlin mitgebracht hat. Dessen Chefdirigent Yannick Nézét-Séguin bemüht sich seit Jahren um die wiederentdeckung des Werks der 1953 im Alter von 66 Jahren Verstorbenen. Kein Wunder, dass auch die erste Zugabe von ihr stammt, das sanft schmachtende Adoration, mit dem die Streicher ihren typischen warmen, angedunkelten, schlanken Klang ausstellen dürfen.

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Yannick Nézét-Séguin und Lisa Batiashvili mit dem Philadelphia Orchestra in der Berliner Philharmonie (Bild: Todd Rosenberg Photography / Philadelphia Orchestra)

In der vorangegangenen „Ersten“ ist dagegen musikalisch, klanglich und farblich so viel mehr zu erleben. Hier sind die Holzbläser der Star, gerade in den ersten beiden Sätzen setzen sie die sanglichen Akzente, erdverbunden, klar, klagend, jeden Raum für ihre melodische Entfaltung bekommend, den sie brauchen. Schnörkellos schwelgen die Streicher, sich verschiebende Hell-Dunkel-Kontraste vertiefen das Klangbild, Farben schillern in sattem Abendlicht. Ein wunderbares Werden und Vergehen, die Wechsel zwischen zart transparenter Lyrik und kraftvollem Orchester-Tutti sind organisch, hier prallt nichts aufeinander, sondern entwickelt sich organisch. Romantische Tradition und meist afroamerikanisch geprägte Musiksprache treten in einen Dialog, dessen Ergebnis mehr ist als die Summe seiner Teile – ein tief empfundenes Verständnis beider Quellen.

Das Orchester brilliert durch Detailschärfe und nicht nachlassende Konzentration. Hier scheint jede Note, schillert jeder Akkord. Magisch die einsamen Gesänge der Solo-Holzbläser, beeindruckend die nahezu kosmische Farbpalette, sehnsuchtsvoll das gedämpfte Blech im zweiten Satz. Melancholie ist nie weit entfernt, doch die Feier musikalischen Lebens überwiegt. Sacht fließt der langsame Satz dahin, klar das Klangbild, schlank und ergriffen die Streicher, selbst die filmische Geste des Satzschlusses kommt ohne ein Gramm Fett aus. Hier ist alles Substanz, so schön die Oberfläche des polierten Orchesterklangs auch glänzt. Viel Energie pumpen die kurzen Schlusssätze in den Saal, der dritte im beschwingten und leichtfüßigen Rhythmus des Juba-Tanzes, das Finale als energisch akzelerierte Reminiszenz an das Vorangegangene. Da wird der melancholische Gesang zum affirmativen Jubel, in den das Publikum nur zu gern einstimmt.

Eröffnet hatten Dirigent und Orchester den Abend tatsächlich mit Dvořák, und zwar dem Karneval, dem Mittelstück einer Trilogie, die er in Amerika verfasste. Lebhaft und perkussiv kommt das daher, erdig der Grundton, körperlich und farbenreich füllt es den Saal. Oboe und Flöte dürfen sich schon mal warm spielen, die Solovioline singt ergreifend, Streicher und Holz unterhalten sich angeregt. Viel Lebensenergie pulst durch das Orchester und kontrastiert dadurch fein mit der sehr viel stilleren, dunkleren Atmosphäre von Karol Szymanowskis erstem Violinkonzert. Die georgische Solistin Lisa Batiashvili kommt in einem Kleid in den ukrainischen Nationalfarben auf die Bühne – sicher kein Zufall – und sucht sich wie aus der Mitte des Orchester kommens ihren musikalischen Raum. Hier ist alles fragiler, bedohter, angespannter. Die Soloinstrumente rufen inn den undefinierten Kosmos, die Solistin wandert durch, mit und jenseits des orchestralen Raums, mit schlankem, scharfen, brüchig warmem Spiel. Geisterhaft fahl ist ihr Klang zuweilen, gespenstisch verbreitet sich die Melancholie mal  im Zwiegespräch, mal im Verbund mit dem Orchester.

Schatten Echos, Gesprächsfetzen wabern heran, Klanginseln driften vor sich hin, ein Wandel aus vereinzelung und Zusammenkommen, irrend, suchend, mitunter nahe an der katastrophischen Entladung. Später wird das Klangbild voller, romantischer, um immer wieder unterbrochen zu werden durch zarte Zwischenwelten und gegen Ende abrupt durch die gespenstische Kadenz. Auch der anschließende Wiederaufbau behält seine Bruchstellen, die glänzende Fassade bröckelt. Ein Innehalten, ein Hinterfragen, ein dunkles Gegenstück zur vorangehenden und folgenden Lebensfeier. Am Ende Jubel, Standing Ovations für diesen vielgestaltigen abend, in dessen Zentrum eine Wiederentdeckung steht, ein Zurückgeben einer verlorenen Stimme. Möge sie nie verstummen.

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