Édouard Louis: Das Ende von Eddy oder Wer hat meinen Vater umgebracht (Das Eddy-Projekt), WABE, Berlin (Regie: Alexander Weise)
Von Sascha Krieger
„Was es jetzt bräuchte, das ist eine ordentliche Revolution“. Jonathan Berlin* hat das zentrale Oktagon, das an diesem Abend als Bühne dient, bereits verlassen, den Rucksack übergeworfen, hält er vor der Ausgangstür noch einmal inne und spricht den Schlusssatz. Er formt jedes Wort für sich, stellt es skulpturengleich in den Raum, lässt es nachklingen, wirken, in die Zusehenden einsinken. Ein ungeheuerlicher Satz, mit kältester Ruhe vorgetragen. Ein Fazit, eine Schlussfolgerung, die einzig mögliche. In zwei Teilen widmet sich dieser dreieinhalbstündige Abend der Geschichte des Eddy und seines Vaters, basierend auf den autobiografischen Werken von Édouard Louis, seiner Auseinandersetzung mit Kindheit und Jugend als schwuler Junge in einer Arbeiterklassefamilie, mit der systematischen Verdrängung Armutsbetroffener aus der Gesellschaft, mit einer Familie zwischen toxischen Männlichkeitsidealen, politischer Manipulation und Überlebenswillen. Der Abrechnung seines Erstlings Das Ende von Eddy folgte die Versöhnung mit dem Vater, das Eingeständnis, dass der wahre Feind ein gemeinsamer ist, litaneihaft aufgezählt in den Namen französischer Politiker aller vermeintlichen Richtungen.
Die Abschiedsszene am Schluss ist eine Spiegelung jener des ersten Teils. Da verschwinden die fünf jugendlichen Spieler*innen langsam, während die vier erwachsenen Schauspieler*innen zurückbleiben. Eine Emanzipation, ja, aber auch ein Zurücklassen, ein Abschneiden eines Teils der eigenen Identität. Denn zuvor waren die neun gemeinschaftlich Eddy. Alle anderen Rollen – die mobbenden Mitschüler, die ambivalenten Eltern – sind internalisiert, Projektionen des Protagonisten, gefiltert durch seine Wahrnehmung und seinen Schmerz. Umso schwieriger gerät die Annäherung an den Vater, der sich trennen muss vom eigenen Bild, von der Wirkung auf den Sohn, der sich ebenso emanzipieren muss wie dieser. Und der der rote Faden dieser Inszenierung ist, auf den alles zurückfällt, der alles repräsentiert, der all den Schmerz des Sohnes exorzieren muss, weil er viel zu viel mit dem eigenen zu tun hat.
Es ist ein Kreisen wie die ersten zwei Stunden dieses Abends. Die Spieler*innen gehen im Kreis, probieren Posen aus, erwünschte, unerwünschte, exaltieren sich im Anderssein und werden zu mechanisch blutleeren Robotern zugeschriebener Männlichkeitsbilder. Und sie umkreisen einander, oft in Zweierkonstellationen, die Zwiegespräche sind mit sich selbst und durch diese mit den, mit dem Anderen, nicht vom Selbst Trennbaren. Dem Vater, der Mutter, dem privaten Trauma, das ein kollektives ist. Und so wechseln die Rollen schnell, aus Soli wird chorische Gemeinsamkeit, aus Zweiergruppen zerfaserte Fragmente eines Wir. Und immer geht es im Kreise, der einzige Ausweg ist der des Schlusses: der Abschied, der auch einer vom Ich ist.

Das ist sorgsam inszeniert, präzise choreografiert (Regiedebütant Alexander Weise ist nicht nur Schauspieler, sondern zeichnete auch für die Sprechchöre beispielsweise in Inszenierungen Ulrich Rasches verantwortlich), mitunter vielleicht ein wenig redundant und repetitiv, doch auch das passt ins Konzept des Nicht-von-der Stelle-Kommens. Die Queerfeindlichkeit, die Männlichkeitsrituale, die Erniedrigung der sich für das System Kaputtmachenden und dann als nutzlos von der herrschenden Politikerkaste Ausgespieenen – sie alle sind untrennbar verbunden, sind eins, bedingen, verursachen einander. Wer unten ist, hat weiter nach unten zu treten, irgendjemand ist da, den es zu treffen gilt, jemand der gesellschaftlich noch niedriger bewertet wird. Die „Ausländer“, die „Schwulen“, sie brauchen eine Entsprechung auch im Kleinen, in der Verachtung der von Sozialhilfe lebenden Nachbarsfamilie oder eben der Ausgrenzung des eigenen Sohnes. Doch betont der Abend immer wieder die Widerständigkeit jener, die die Politik nur als Namenlosen wahrnehmen kann. Die Verdammung des schwulen Sohnes misslingt wie am ende auch die Projektion der eigenen Misere auf vermeintlich noch „Schwächere“.
Es ist ein rhythmischer Abend, ein Zusammen- und Gegeneinanderspiel von David Schwarz‘ Sound-Loops, den mit- und gegeneinander choreografierten, stets im Kollektiv auch individuell bleibenden Körper (jedes Eddy-Fragment ist anders), rhythmisierten und immer wieder auch aus dem raster fallenden Sprechens, ein kakophonisches Durcheinanderpurzeln physischer Zitate, Rollen, in die sich die Körper nie ganz einpassen lassen, gegen die sie sich sträuben und welche sie doch gefangen nehmen, wenn auch nie ganz. Es ist ein Ringen mit Erwartungen, fremden, eigenen, mit halb erkämpften Identitäten und aufgepfropften Zuschreibungen, der im ersten Teil starke, intensive Momente, Bilder, Gesten, Bewegungen, Sounds findet, im zweiten dagegen ein wenig abflacht. Das Solo verplätschert ein wenig in der Suche nach dem richtigen Ton. Ihm fehlt die Wut des Textes, die lakonische Rationaliät der Auseinandersetzung mit dem Vater knüpft zu selten an die ratlose Verwirrtheit der Identitätsfindung an, die erneute Suche, die Wiederanknüpfung ist zu sehr Text und zu wenig Spiel. So hält der Abend seine Intensität nicht, auch wenn der Schlusssatz sie noch einmal in Erinnerung ruft. Gescheitert ist das „Eddy-Projekt“ damit jedoch keineswegs. Es ist eine Annäherung, ein Umkreisen, ein Versuchen und Scheitern, ein Suchen des Kerns des Menschlichen, der Gesellschaft, der Realität, eines Kerns, der am Ende vielleicht in Sichtweise ist. Und womöglich auch nicht.
*Bei der Premiere spielte Alexander Fehling in „Wer hat meinen Vater umgebracht“, in späteren Vorstellungen übernehmen Michael Rotschopf und Franz Hartwig die Rolle.