René Pollesch: Goodyear, Deutsches Theater, Berlin (Regie: René Pollesch)
Von Sascha Krieger
Natürlich ist nichts „normal“ an diesem Premierenabend, dem ersten in diesem Jahr, möglich gemacht durch das Pilotprojekt Testing des Berliner Senats. FFP2-Masken, gelichtete Zuschauer*innenreigen und ein ausgeklügerlter Einlass mit Ausweisvorlage und Schnelltestnachweis bürgen dafür, dass der Ausnahmezustand,d er gerade auch die Kultur seit Monaten lahmgelegt hat, noch nicht Geschichte ist. Und doch ist manches wie früher, wenn fünf Spielerinnen eine gute Stunde Lang René-Pollesch-Texte hin und her stoßen, als wären sie Billard Kugel. Weit ist der Himmel von Barbara Steiners Bühnenbild, unten glitzert der Asphalt. Eine Rennstrecke imagniert der Abend und steckt die Spiele*innen mal Rennfahreranzüge, mal in Witwenkleider. Leben und Tod sind allgegenwärtig und zugleich spielerische Abstrakta, Bälle, mit denen sich jonglieren lässt. Natürlich ist er reich an Zitaten, so manche Filmszee wird geplündert, die Formal-1-Geschichte dazu und ums Theater geht es eh immer.

Die Rolle ist es diesmal, die Regisseur und Ensemble umtreibt. Jeremy Mockridge kommt nicht in sie hinein und Sophie Rois nicht heraus. Die Spier*innen auf der Bühne spielen Spieler*innen, die Spiler*innen spielen und so weiter. Klappen fallen, Metaebene türmt sich über Metaebene und am Ende verheddern sich so viele Rollen ineinander wie Jeremy Mockridge an einer Stelle in einen Klappstuhl. Das ganze Leben ist, nein, kein Quiz, aber ein Film. Alberne Slapstickszenen zitieren Schlägereien in Piratenfilmen, in Zeitlupe und zum Teil im Off. Ein Kind verirrt sich beim Vorsprechen in einem Film und wächst zu einer Riesin heran. Farce meets Surrealismus, Tragödie Trash, Theater das Drama der Rennstrecke. Der Soundtrack dröhnt, später machen Motorengeräusche das gesprochene kaum hörbar. Vom Theater geht es zum Sex, der auch nur möglich sei durch die Fantasie eines Zuschauenden, und von dort weiter zum Ego-Theater in den PS-Monstern, zum Leben und zum Tod.
Und stets geht es um die Rollen, von denen wir wissen, dass wir sie spielen, und von denen wir es nicht ahnen. „Jede sexuelle Aktivität ist für beide undurchschaubar“, heißt es einmal, nur nicht für die imaginierte Zuschauer*in. Das Zwischenmenschliche, das Intime, auch das ist Performance, man kennt den Gedanken bei Pollesch. Nur fehlt diesmal die Zutat, die seinen Abenden zuweilen ihre losen Enden verpassen: die Liebe, das nicht weg zu Diskutierende. Es bleibt diemal abwesend, die Schleifen schließen sich und führen so bruchlos in einander wie eine Rennstrecke. Das, was übrig bleibt ist an diesem Abend der Tod. Oder erwäre es, wenn er sich nicht im Diskursgewitter als rhetorische Geste auflöste. Da wird die Geschichte einer Rennfahrer-Witwe erzählt, die nonchalant berichtete, dass sie immer schwarze Kleider kaufte, da sie wusste, sie würde einmal eines brauchen. Man müsse schon leben wolle, heißt es gegen Ende, aber in einer Gleichgültigkeit gegenüber Leben und Tod. Keine Fragen offen.
Und damit müht sich der Abend, funkelt Polleschs Theater doch meist in der Unschärfe, in der Unsicherheit zwischen den Gedankenschichten. Von denen gibt es diesmal nur wenig. Es ist nach langer Stille auch ein Abend der Selbstvergewisserung, des sich selbst Einredens noch da zu sein und vielleicht sogar relevant. So wie die Darsteller*innen-Darsteller*innen Schwierigkeiten haben, in ihre Rollen zu kommen und sie wieder zu verlassen, taumelt auch das Stück hinein in einen verlernten Neuanfang. Ein blinkender Riesenschuh wird zum Symbol des immer mit einem Fuß in der Rolle sein Müssens. Doch er feht rennwagen-gleich über die Bühne, ziellos, kaum zu kontrollierend. Ein hübsches Bild, das nichts bedeutet. Und darin liegt vielleicht der Freiheitsmoment dieses Abends: in den viel zu seltenen und kurzen Momenten des nichts Aussagenwollens. Leben und Tod sind für diesen Neuanfang womöglich zu schwere Gewichte, das pure, lustvolle Spiel der furchtlosen Fünf – neben den genannten Christine Gross, Astrid Meyerfeldt und Katrin Wichmann – insbesondere die so lang vermissten hochkomischen Ausbrüche von Sophie Rois mehr als genug. Auch dieses Theater muss erst wieder zu sich finden. „Ich komme mir vor wie in einem Porno, in dem der Klempner wirklich nur die Spüle macht“, heißt es einmal. Das trifft den Abend ganz gut. Und das ist auch durchaus in Ordnung.