Milo Rau und Ursina Lardi: Everywoman, Salzburger Festspiele / Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin (Regie: Milo Rau)
Von Sascha Krieger
Ein Brief sei der Ausgangspunkt für diesen Abend gewesen, erzählt Ursina Lardi zu Beginn. Eine ältere Frau habe ihr geschrieben, gern würde sie, die mit Anfang 20 mal Statistin in Romeo und Julia war, noch mal auf einer Bühne stehen. Nur gäbe es zwei Probleme: zum einen Corona, zum anderen eine hoffnungslose Krebsdiagnose. Lardi, so erzählt sie, war interessiert, sie traf sich mit Helga Bedau und jetzt sind sie gemeinsam auf einer Bühne. Oder auch nicht. Denn nur Lardi ist leibhaftig anwesend, ihre Mitspielerin erscheint auf einer großen Videowand. Und doch sprechen sie miteinander, pber Distanzen, über Zeiten hinweg. Die Illusion der Präsenz des Geschehens, die Anwesenheit des Als-ob, die immer auch eine Abwesenheit impliziert, was Theater ausmacht, drehen Lardi und Regisseur Milo Rau noch ein wenig weiter. Denn natürlich ist der Dialog Illusion, die Repliken Bedaus sind aufgezeichnet, während Lardi live spricht, aber natürlich nur das Vereinbarte. Ein Als-ob, das den Tod zu besiegen in der Lage scheint. Theater, obwohl nur im Moment stattfindend und nach Vorstellungsende verschwunden, hat doch immer schon den Anspruch zu bewahren, überzeitlich zu sein, universell auch. Rau und Lardi nehmen das ernst an diesem vor allem für ersteren so ungewöhnlich persönlichen Abend.

Es geht um den Tod und es geht ums Theater. Ein Wechselspiel, das die stillen 80 Minuten streckenweise so intensiv macht. Bedau sitzt an einer Tafel, andere Statist*innen sind schon da, wundern sich über ihre Ankunft, verschwinden. Eine Szene aus dem Jedermann, dem anderen Ausgangspunkt der Inszenierung. Eine moderne Bearbeitung wollten die Salzburger Festspiele von Rau, einen Dialog mit einer Sterbenden haben sie bekommen. Lebensgeschichten werden zitiert, Lardis, Bedaus. Erstere erzählt von einem Rennbahnerlebnis, ein sterbendes Pferd, das blickte, als hätte es die antworten auf alles gefunden. Letztere berichtet von 1968 in Berlin, Demos, WGs, dem Mann, der nicht des Sohnes Vater war, selbiger, der mit 12 zum Vater nach Griechenland ging, der Moment auf der großen Bühne. Erinnertes, Vergangenes, Verlorenes, das noch immer da ist. Das auch bleicbt, nachdem die zumn allein im Raum Zurückgebliebene langsam entschwindet. Lardi hantiert mit einem Kassettenrekorder, auch er ein Bewahrer des Vergangenen, sie übernimmt Bedaus Geschichte, erzählt sie weiter, bewahrt, belebt, bezweifelt.
Sie imaginiert einen Theaterabend, vielleicht wenn die Menschheit zum Abschluss gekommen ist, über einen Menschen, universell, individuell, allumfassend. Ein Abend wie dieser zugleich ist und nicht sein kann. Denn das Umfassen müsste ja den Tod beinhalten und der lässt sich nicht greifen. Er läge in dem Blick des Pferdes, dem Wissen um Leben uns Tod, das wir nicht vermögen zu finden. „Warum gibt es einfach nichts Neues über den Tod?“, fragt Lardi einmal, wissend, dass wir ihn nicht erfassen können, denn sein erleben ist eben das Ende jeder Reflexion. Da ist es auch nicht überraschend, dass das Gespräch über ihn zuweilen recht banal klingt, dass es sich nur führen lässt auf Basis klischeehafter Phrasen, die der Abend mitunter zu ernst nimmt, weil er nichts anderes hat, nichts anderes haben kann. „Was dachten Sie denn, woran Sie mal sterben würden?“, fragt Lardi Bedau, der es irgendwann zu viel wird: „Ich dachte, wir spielen hier den Jedermann?“
Der Abend hat eine erstaunliche Leichtigkeit, was vor allem an Helga Bedau liegt. Einmal fragt sie Lardi, was man denn mit so einer Hauptrolle verdiene, sie brauche schließlich 6.000 Euro für die Überführung des Sargs nach Griechenland. Das Alltägliche und das Letzte, hier tanzen sie einen innig ironischen Tango miteinander. Überhaupt fasziniert Bedaus sachlich unsentimentaler Blick auf den Tod – auch das natürlich ein Klischee, der würdige Umgang mit dem Unausweichlichen, die darin implizite Diffamierung des Leidens an und mit sich und seiner Sterblichkeit. Und trotzdem hilft dieser Tonfall natürlich, die Selbstverständlichkeit des Sterbens akzeptieren zu können – fassen lässt sie sich nicht. Also doch ein bisschen sentimental: Lardi fragt Bedau nach ihren Wünschen fürs Begräbnis – und setzt sie gleich mal um. Regen prasselt, die spielt Bach auf dem Klavier. Eine Erlösungsphantasie so tröstlich, wie sie kitschig ist. Denn auch der Trost ist eine Illusion. Also nochmal zurück ins Theater: Ursina Lardi, nun allein, spricht von ihrem Lieblingsmoment, der Lücke zwischen dem Ende der Vorstellung und dem einsetzen des Applauses, dieser Leere, diesem Ende und Anfang, in dem nichts ist und alles neu wird. In dem völlige Abwesenheit herrscht. Bei kompletter Präsenz. Ein Tod auch und ein Neubeginn. Das Schlusswort hat Bedaus Stimme: „Doch, es war schön.“ Auch das ist jetzt so ein Als-ob. Aber ein wahrhaftiges.