René Pollesch: Melissa kriegt alles, Deutsches Theater, Berlin (Regie: René Pollesch)
Von Sascha Krieger
Nein, wer Melissa ist und was sie alles bekommt, erfahren wir in diesen 90 Minuten nicht. Wer sinch an den Stücktiteln von Pollesch-Abenden festhält, hat eh meistens verloren. Und so ist der Brief, dem die ersten Worte Kathrin Angerers, gesprochen noch hinter der weißen Vorhang-Gardine, gelten und der die titelgebende Aussage entält, schnell vergessen. Er ist ein Zitat, ein Überbleibsel des solche Trigger bedingenden Handlungstheaters, das Pollesch schon lange hinter sich gelassen hat und das er hier mal wieder genüsslich seziert. Der Brief als Handlungstreiber – er darf mit auf den Komposthaufen nicht benötigter Theatertropen. Auch wenn es mit allerlei russisch anmutenden Garderobenelementen – Fellmützen- und -mäntel spielen eine wesentliche Rolle anmutet, als wäre wir bei Tschechow oder zumindest Gorki: Der Fluchtpunkt dieses abends heißt Brecht. Es ist sein Vorhang, der zu Beginn aufgeht und wiederholt thematisiert wird, sein Theater, um das sich die Gesprächsschleifen immer wieder drehen und zu dem sie stets zurückkommen. Und es ist seine Frau, Helene Weigel, welche die zwei Themenkomplexe des Abends, so man von solchen sprechen kann, zusammenfügt: das Theater und die Revolution.

Über die Mutterwerdung der revolutionären Frau schwadroniert Angerer lange, darüber, dass Revolutionärinnen mit Verfestigung des postrevolutionären Systems immer stärker mütterliche Züge anzunehmen hatten und ja auch die Weigel am Berliner Ensemble nicht nur Mütter spielte sonder letztlich auch den Haushalt führte. Dass sich jeder für die Kleider von Angerers Figur Frenchie (natürlich ist auch das amerikanische Autorenkino wieder eine von Polleschs Folien – Gena Rowlands taucht öfters als revolutionäre Frauenbildnerin auf) aber nicht ihre Kriegsverletzung interessiert, ist symptomatisch. Überhaupt schwurbeln hier vor allem die – natürlich in der Mehrheit befindlichen – Männer in ihrer unschlagbaren Selbstbezogenheit. Franz Beil wünscht sich eine Gesamtansicht von sich und hadert wild gestikulierend damit, nicht gesehen zu werden, auch nicht von sich selbst. Und Martin Wuttkes Ray, eine Mischung aus Väterchen Frost, Karl Marx und schrulligem alten, nervt alle mit seinen lächerlichen Bankraub-Plänen. Ein Film-Versatzstück ohne Funktion, aber wie alle (pop)kulturellen Zitate nicht totzukriegen. Wir sehen, was wir gelernt haben. Und die Antiheldenpose des sympathischen Möchtegernkriminellen ist leichter zu konsumieren als Theoreme um revolution und Kapitalismus.
Apropos sehen: Darum geht es irgendwie auch an diesem Abend. Um die Unmöglichkeit sich selbst anzuschauen. Die vorgeführt wird durch riesenhafte Rückwandprojektionen, die auf den kleinen Bühnenkasten blicken und natürlich die anderen sehen, aber nie sich selbst. Es ist wohl eine dieser „paradoxalen Aufforderungen“ um die es hier gehen soll, die Gleichzeitigkeit des Gegensätzlichen, die wiederum Brechts Theater ausmachen soll, seine Artifizialität, sein gleichzeitiges Sein und Nicht-Sein. Das führt zur Trance, die vermeintlich durch selbige Paradoxien ausgelöst wird oder charakterisiert oder beides. Nina von Mechows Bühne ist auch und sie ist nicht. Immer wieder fallen die Wände und werden wieder aufgerichtet, drin ein Stilmix aus Hammer-und-Sichel-tapete, bunt geschwungenen Kinderbuchmöbeln und Zerrbildern russischen Naturalismus. Blau und rot sind die bestimmenden Farben, die Figuren tragen Zeitungsnachthemden oder 1917-T-Shirts, auch die Revolution ist nurmehr popkulturelles Zitat und genau so Coolness-heischende Pose wie Wuttkes Bankräuber-Fantasien.
Hier ist alles alles und alles nichts, Zitat und Substanz negieren einander und revitalisieren sich dadurch. Gena Rowlands Spielverweigerung, Brechts Verfremdung und Ablehnung des „Authentischen“, die Hypnose der Widersprüche, die Unmöglichkeit sich selbst zu sehen, das Verschwinden der unabhängigen Frau in der pseudorevolutionäten Mutterrolle: Die Absurdität des Gegensätzlichen durchzieht den Abend, wortreich wie immer, ein Monolog mit aufgeteilten Sprechrollen (wobei die angesprochenen Pollesch-Veteranen die drei Ensemblemitglieder Katrin Wichmann, Jeremy Mockridge und Bernd Moss zu oft übertönen dürfen). Es ist ein Sich-abarbeiten am Theater, an seinen Relevanzzweifeln, in Zeiten, in denen es sich zwangsläufig neu erfinden soll. Das ist wie immer virtuos, zuweilen witzig – aber diesmal leider auch ziemlich öde. Die statische Anordnung verstärkt sich noch durch die Abstandsregeln, die Diskursschleifen sind besonders zirkulär, die Wiederholungseffekte ermüdend. Schnell scheint alles gesagt und wähnt man sich in einem viel zu langen Loriot-Slapstick-Sketch, der den ausgangs-Gang ad infinitum fortführt.
Bin am Ende der Bühnenkasten umgedreht wird, angerer allein auf der Bühne steht und die Gegensatz-Metaphorik ins existenzielle treibt. Sie spricht vom Vermissen des unmöglichen, vom Begehren des Abwesenden, von der Unmöglichkeit, die Gleichzeitigkeit des Habens und Wollens aufzulösen. Wäre es dann nicht besser vergessen zu können, das was noch nicht war, bevor man es vermisst? „Es gibt überhaupt keinen Grund, dass du untergehtst. Nur deshalb wirst du es.“ Das Unnötige als Fluchtpunkt einer utilitaristischen Gesellschaft, das Verschwinden als letzter akt der Revolte. Wie wäre es neu anzufangen, ohne Ballast, Zitate, Erwartungen, ein Anfang, der kein Ende braucht, weil esr immer schon vergessen ist? Ein echtes „Theater der Trance“, des sich Verlierens, des Verschwindens? So wie Angerer sich am Ende verliert, verschwindet, der Brechtvorhang zugezogen, sie nur noch eine Projektion, ein Bild, ein Zitat? Fragen bleiben offen, wie stets bei Pollesch, nur Fragen. Ist das Verschwinden Aufgabe oder Chance, Kapitulation oder Neuanfang, kommt da noch was oder liegt die einzige Hoffnung im Enden? Und wofür? Fürs Theater, die Revolution, die menschliche Existenz? Und ist das nach 90 Minuten selbstreferenziellen Dauergequatsches überhaupt noch wichtig?