Liebe als Flickwerk

Kirill Serebrennikov nach Motiven von Giovanni Boccaccio: Decamerone, Deutsches Theater, Berlin / Gogol-Center, Moskau (Regie: Kirill Serebrennikov)

Von Sascha Krieger

Am Ende stehen sie wieder da, Ensemble, Crew, alle in den weißen „Free Kirill“ T-Shirts, die man von jeder Premiere des russischen Regisseurs Kirill Serebrennikov außerhalb seines Heimatlandes in den letzten Jahren kennt. Auch wenn der Hausarrest, des – wohl zweifellos zu Unrecht – wegen Veruntreuung von Geldern seines Moskauer Theaters Gogol-Center vor Gericht stehenden Künstlers aufgehoben ist, das Land darf er nach wie vor nicht verlassen. Und so fand ein Großteil der Proben seines lang erwarteten und bereits mehrfach verschobenen DT-Debüts in Moskau statt, besorgten Assistent*innen die Einrichtung auf der Berliner Premierenbühne. Natürlich schwingt die Entstehungssituation mist und beeinflusst die berechtigte Sympathie für den seit Jahren Repressalien ausgesetzten Theatermachers auch seine Rezeption in Deutschland und trägt sicher zum lang anhaltenden Applaus an diesem Abend bei. Zumal das Sujet, Giovanni Boccaccios Zyklus um 10 junge Menschen, die sich (freiwillig) in einem Haus verbarrikadiert haben, um der grassierenden Pest zu entgehen, nicht ohne Berührungspunkte zum (nicht freiwilligen) Eingeschlossensein des Regisseurs ist. Die „Pest“ im Sinne eingeschränkter Kunst- und Meinungsfreiheit, eines Systems, das eingrenzt, beschränkt, mundtot machen will, bestimmt auch Serebrennikovs Leben. In seiner Inszenierung findet sich davon jedoch nichts.

Bild: Ira Polyarnaya

Vielleicht ist es löblich, dass der Regisseur nicht den logischen Weg geht, die eigene Situation anhand eines Stoffes zu verarbeiten, der dazu durchaus Ansatzpunkte bietet. Stattdessen entscheidet er sich für das Thema des Buchs, die Liebe in ihrer Vielfalt, ihrer Unberechenbarkeit, ihrer Gefahr und ihrer Fähigkeit zur Erlösung, eben auch ein Gegenmittel in einer wie auch immer gearteten feindlichen Welt. Und er stellt ihr als „Feind“ den universalen, den nicht weg zu ideologisierenden, den unerbittlichen und unbesiegbaren entgegen: den Tod und den Weg zu ihm, das Altern. Schauplatz ist eine Turnhalle in aseptischem Weiß, mit Sprossenwänden und Gymnastikbällen, in dem Almut Zilcher immer wieder sieben ältere Damen anleitet. Stets tritt ein junger, am ende nur leicht bekleideter Mann hinzu, der aus selbigen sexuell anzüglichere macht, welche die Damen nicht unberührt lassen. Die sexuell erfüllte Liebe als Antidotum des Alterns. Das ist nicht neu und auch nicht übermäßig subtil umgesetzt. Und es passt zu so mancher Episode, in der Serebrennikov auf Vergegenwärtigung setzt: etwa beim Spiel einer Frau, die mit dem Stellvertreter des Gatten Sex haben will und diesem mittels angeblicher Augmented Reality weismachen will, dass, was er sieht, nicht real sei. Oder die beiden Chat-Episoden, in denen zunächst eine Frau den ihr Verfallenen öffentlich aus purer Gehässigkeit bloßstellt, wofür dieser sich später rächen wird. Das ist im Zeitalter des Online-Mobbings nicht ohne Wirklichkeitsbezug, aber dann doch auf eher plumpe Weise umgesetzt. Moderne Technologie als Manipulationsmittel im Zwischenmenschlichen – mal witzig oder gefährlich – das greift dann doch ein wenig kurz.

Diese satirischen Elemente mischen sich mit ernsteren und bleiben doch von diesen getrennt. Die Jahreszeitenlieder Georgette Dees – warum der Abend sich am Jahreszyklus entlang hangelt, erschließt sich nicht so recht –bringen Ernst und ein klein wenig Pathos, erfüllen aber keine spürbare daramaturgische Funktion, außer wenn das Winterlied in eine Geschichte überleitet, die Dee selbst erzählt, jene vom Wolf, der dem Gatten im Traum erscheint, wie er die Frau zunehmend gesichtlos macht, berührend erzähltes Sinnbild der existenziellen Angst um die Liebe und ihr „Objekt“. Es ist eine der stärkeren Passagen des Abends, getoppt nur von der Geschichte um den Offiziers-Vater, der den Soldaten-Freund der Tochter ermordet und diese mit dessen herausgerissenem Herzen, das zu ihrem letzten Trost wird, zu demütigen sucht, während sich die Liebenden jenseits der Sterblichkeit vereinen. Wie Regine Zimmermann, Filip Avdeev und Oleg Gushchin – Serebrennikov arbeitet hier mit einem gemischenten Ensemble von DT und Gogol-Center – mit maximaler Zurückgenommenheit diese Geschichte von toxischer Männlichkeit und weiblicher Widerständigkeit spielen, unspektaktär, existenziell reduziert, fasst an und deutet an, wo ein solcher Abend hätte hinführen können.

Doch findet sich dieser Tonfall zu selten, finden das Satirisch-Eulenspiegelhafte und das Ersthafte nur in wenigen Momenten zusammen. Angedeutet in der Geschichte um den Stallburschen, der sich ein Rendezvous mit der Königin erschleicht und damit davonkommt, am ehesten in der ansonsten zu grell-plakativen Episode, in der eine hochmütige Frau den Verehrer zunächst brüsk ablehnt, er sie durch eine bildmächtige Horrorshow dann aber gefügig macht. Was zum nächsten Problem führt: dem problematischen Frauenbild des Abends, umso schwieriger, als er seine Premiere ausgerechnet am Weltfrauentag feiert. Freuen sind hier – mit Ausnahme der besagten Vater-Tochter-Geschichte – meist Intrigantinnen und Manipulatorinnen, gern auch Objekte, aber auch eher weniger intelligente Spielbälle, die sich – im Kontext meist als verdient dargestellt – übers Ohr hauen lassen. Wieder mit besagter Ausnahme sind es die Männer, die ehrlich und unter Einsatz ihres Lebens an der Liebe leiden, diese ersehenen und immer wieder (oft an den Frauen) scheitern, exemplifiziert durch das Schlussbild des nackten Georgiy Kudrenko, der sich durch eine viel zu niedrige Fenstergalerie hindurchwindet. Hier wird reichlich unironisch mit Geschlechterklischees gearbeitet (etwa auch in der Episode „Heiliger“, in welcher der mann für das vergeistigt Idealistische, die Frau für das körperlich Lustvolle steht, auch wenn hier die Bewertung weniger schwarz-weiß erscheint), die eher reproduziert als hinterfragt werden.

Zumal die Inszenierung auch ihre Grundidee aus den Augen verliert. So aufwendig ist das Bilder- und Körpertheater mit seinen Tableaux, Projektionen und Choreografien, so sehr setzt es auf den sexuellen Aspekt der Liebe, dass die Gegenüberstellung mit Tod und Altern irgendwann aus dem Fokus gerät. Die Liebe ist nicht länger Gegenmittel als Selbstzweck oder Machtinstrument, was womöglich ehrlicher ist, aber den rahmen etwas obsolet erscheinen lässt. Dass gegen Ende die Statist*innen mit Fragmenten ihrer eigenen Geschichten zu wort kommen, ist ein eigentlich sinniger moment, der hier leider Fremdkörper bleibt. Zu sehr berauscht sich der Abend an seinen assoziativen Bildern, den gern entblößten (Jung-)Männerkörpern und so mancher schauspielerischen Glanzleistung, die zweifellos die Inszenierung aufwerten. Allein die Entdeckung Regine Zimmermanns und Filip Avdeevs als Theater-Traumpaar ist einen Blick wert an diesem Abend, der zu uneinheitlich ist, um zu überzeugen, der Schaueffekte einer stringenten Linie, einem klar definierten Tonfall, einer deutlichen Haltung zur Wirklichkeit vorzieht, der Klischees reproduziert und sich am ende selbst verliert. Ein Abend auch mit starken, im Gedächtnis bleibenden und den Gedärmen wühlenden Momenten, mit satirischer Schärfe und viel Spiellust. Vielleicht auch einer, der an der teilweisen Abwesenheit seines Regisseurs leidet, zu sehr Stückwerk bleibt und mit dreieinhalb Stunden auch viel zu lang ist.

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