Sarah Kane: 4.48 Psychose, Deutsches Theater, Berlin (Regie: Ulrich Rasche)
Von Sascha Krieger
Auch in seiner ersten Arbeit am Deutschen Theater ist alles wie immer bei Ulrich Rasche: Menschen auf Laufbändern, in unablässiger Bewegung nicht von der Stelle kommend, sie sprechen rhythmisch, mechanisch, abgehackt, Sprache, Bedeutung hinterfragend im Prozess des Sprechens, ein nicht enden wollender Marsch ohne Anfang, ohne Ziel, hinter, unter den Text, hin zu vermuteten Wahrheiten oder zumindest den Fragen, die man gemeinhin die „großen“ Sennt, nach Sinn, Bedeutung, Existenz, Menschsein. Und doch ist alles anders: Der maschinelle aufwand ist stark reduziert, die Laufbänder vergleichsweise klein, die heben und sehnen sich nicht, verschieben sich nicht gegen einander, keine Materialschlacht, sondern das Mindestmaß, das nötig ist, um Rasches theater zu betreiben. Und noch etwas ist anders: Es ist kein Klassiker der dramatischen Literatur, den der Regisseur bearbeitet, keine Geschichte um Macht, Ohnmacht, das Geworfensein des Menschen in eine feindselige Welt, in der und mit der er umgehen, in der er sich positionieren muss, sondern ein Stück, das nach innen gewandter nicht sein könnte. Sarah Kanes letzte Arbeit vor ihrem Suizid mit 28 Jahren ist eine Auseinandersetzung mit sich selbst, der Depression, in deren Fängen sie sich befand, den Auswirkungen selbiger auf ihre Sicht auf die Welt und sich selbst, die Dunkelheit, die nicht Ruhe geben würde, bevor sie alles verschlungen hätte.

Und dunkel ist es an diesem Abend. Fast drei Stunden lang herrscht Dämmerlicht, fahl, lebensfeindlich. Neonröhren umgrenzen das Bühnenzentrum, später wird es Scheinwerferbatterien im Hintergrund geben, doch alles Licht bleibt kalt, spendet kein Leben, keine Wärme, keine Hoffnung, strahlt in die Leere, in die auch die Spieler*innen starren, und verliert sich dort im Nichts. Einzeln, zu zweit, zu dritt, in bis zu neunfacher Gemeinschaft laufen sie an gegen das Gegenläufige, kommen nicht weiter, verschwinden aufgebend immer wieder im Dunkel, bevor sie zurückkehren in das Licht, das trügerische, aufschiebende, tödliche. Es sind zunächst drei Frauen, in hellen, fahlen, gespensterhaften Bodysuits steckend – später wird als zweite Kostüm“farbe“ schwarz hinzukommen – die sich hineintasten, -suchen, -arbeiten, -laufen in den dunklen, zuweilen hermetischen, dann wieder schonungslos offenen Text, sich hineinringen in eine Sprache, die greifbar machen will, was nicht zu fassen scheint, jene innere Schwärze, die mit dem „Außen“ nicht zu korrespondieren vermag, sich zunehmend abspaltet, überwindliche Barrieren errichtet, bis von der Welt hinter der Mauer nichts mehr zu sehen ist.
Und ein Ringen ist das, was sie veranstalten, eines mit der Sprache, dem Körper, der Möglichkeit, Unausdrückbares auszudrücken. Immer in Habacht-Stellung, angespannt, auf dem Sprung oder dem Rückzug die meist etwas gebeugten Körper, jedes Wort abklopfend, befragend, bestaunend, nicht verstehend das Sprechen. Katja Bürkle presst die Worte heraus, aggressiv, wütend, mit dem Selbstbewusstsein einer, die nichts zu verlieren hat, Kathleen Morgeneyer wirkt wie eine innere Kassandra, eine Klagende, Mahnende, bei der zwischen ihr und dem Gesagten stets ein Abgrund herrscht, Linda Pöppel ist präsenter, körperlicher, wiederständiger, ein rauer Ton des Noch-nicht-Aufgebens. Sie übergeben einander den Text, finden sich zusammen, gehen auseinander. Immer spricht nur eine, das Individuelle ist universell und bleibt doch vereinzelt, gefangen, nicht vermittelbar. Später, sehr viel später, sechs männlicher Spieler kommen nach und nach hinzu, wird auch chorisch gesprochen, ein aggressiver Chor der Ärzte, wohlmeinend, verständnislos, sich auf das routinierte und Einfache zurückziehend.
Aber auch die Erfahrung der Depressiver, der der welt Entfallenen wird in der Schlussphase zum Chor, gewinnt die Allgemeingültigkeit, die Kane ihren Worten vielleicht gar nicht zugetraut hätte. Das Ringen um die Sprache, die Möglichkeit und Unmöglichkeit, Bedeutung zu vermitteln, wird ein kollektives, die inneren Verletzungen und Kämpfe dringen nach außen, nehmen die Welt in Geiselhaft, vergiften sie, wie sie zuvor vergiftet wurden. Und bleiben separat, hilflos, nicht durchdringend, eine Verlorenheit, eine Hilf- und Ratlosigkeit, die nicht individuell ist, aber sich nicht in Gemeinschaft übersetzen lässt. Nicht die* Einzelne ist depressiv, die Welt ist es – und sie ist, verengt sich auf die* Einzelne. Rasche gelingt es, einen Sog zu entwickeln, der die Unentrinnbarkeit der Leidenden, wenn nicht vermittel-, so do irgendwie spürbar machte, ohne ihr die Reflexionsfähigkeit zu nehmen, denn das Ringen mit der Sprache ist keines, das nur scheitert. In den zerdehnten Phrasen, den abgehackten Wortfetzen, den langen Pausen entsteht so etwas wie Ausdruck, Sinn, Entäußerung einer Verstehenden. Und der verteilt sich – auf die Mitspielenden, das Publikum, die Welt, die dunkel bleibt und sich doch kaum merklich im Sinn, im Verstehen erhellt.
Ulrich Rasches mechanistisches Reduktionstheater, zurückfallend auf Kernbewegungen, den Akt und die Mechanik des Sprechens, sich entäußernd jeglicher Individualität, war vielleicht noch nie so in einem Text zu Hause wie hier, wo es genau darum geht: die Dissoziation des Existenziellen vom Individuellen, den Kampf mit den basalen Lebensfunktionen und deren zunehmende Unfähigkeit, Bedeutung zu schaffen. Und genau darin gelingt es eben doch, erhebt sich das individuelle, etqa in den sehr unterschiedlichen Tonfällen, Blicken, Haltungen der Spieler*innen. In den Pausen, den Brüchen, den Zwischenräumen. „Ich will nicht leben“, sagt Kathleen Morgeneyer einmal. Pause. Dann fügt sie hinzu: „Müssen“. Pause. „In so einer Welt.“ Wo nichts mehr gilt, wo keine Hoffnung herrscht, bäumt sich der Mensch auf. Vielgestaltig, vielgesichtig, persönlich. Und bleibt, wenn die irisierend irritierenden Klangflächen der fantastischen Live-Band verklungen, die menschlichen Schemen verschwunden sind. Denn sie sind es ja nicht. Sie sitzen hier im Zuschauerraum. Sie sind wir.