Virginia Woolf: Orlando, Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin (Regie: Katie Mitchell)
Von Sascha Krieger
Geschlechterrollen, ihre Zuweisungen und die Bilder, die sich Gesellschaften von den Angehörigen der jeweiligen Gender macht, sind ja bekanntlich durchaus aktuelle Themen, neu sind sie nicht: Sie gehörten etwa zum Kern von Virginia Woolfs Literatur, kulminierend in ihrem 1928 erschienenen Roman Orlando, dessen Titelfigur über 400 Jahre zunächst als Mann, dann als Frau, später fluide zwischen den Genderzuschreibungen wechselnd durch die Zeitalter und Rollen wandelt. Mit reichlich Humor, sprachlicher Leichtigkeit, die sich ebenso wandelbar zeigt wie der Held, pardon, die Heldin, begleitet Woolfs Erzähler*in die Titelfigur durch ihre zufällige, Identitätsgrenzen überschreitende, später gar negierende Emanzipation. Auch bei Katie Mitchell. Da sitzt die „Biografin“ in Person von Cathlen Gawlich oben in einer Sprecher*innen-Kabine neben der obligatorischen großen Videowand und liest aus dem Roman vor. Mit leicht spöttischen Tonfall, zuweilen der Orlando-Darstellerin Jenny König trockene Klarstellungen bei ihrer Verwirrung über Geschlechterrollen zuwerfend.

Wie überhaupt der Abend die Genderfluidität der Vorlage aufnimmt. Männer spielen Frauen, Frauen Männer, Männer Männer, die sich als Frauen verkleiden, und so weiter und so fort. König selbst zeigt sich zumindest visuell wandelbar, passt sich in Kostüm und Perücke der jeweiligen Zeit ebenso perfekt an wie der jeweils präferierten Gender-Identität (Kostüme: Sussie Juhlin-Wallen). Ansonsten bleibt König weitgehend im lausbübisch naiven Staun-Modus, in dem sie die Figur als 16-jährigen Königin-Liebhaber einführt. Ein bisschen mehr Selbstbewusstsein, ein wenig mehr (selbst)ironische Distanz erlaubt sie der Figur, auf Spielmodi für die verschiedenen Epchen oder Gender-Zuweisungen verzichtet sie aber weitgehend. Wie Mitchells Inszenierung ohnehin nicht so sehr auf Schärfen setzt. Das ist insofern verständlich, als das Grundprinzip ihres Theaters in sich schon perfekt zur Thematik passt. Wie fast immer bei ihr stehen Live-Videobilder im Mittelpunkt, ist ihre Erzählung ein mit Narration versehener Film, dessen Produktion in den Räumlichkeiten unter der Videowand zu beobachten ist, transparent mit aller eingesetzten Technik und so manchem hübschen Trick. Anschlüsse zu vorproduzierten Außenaufnahmen werden regelrecht zelebriert, jede Idee ausgekostet.
Kamerafahrten symbolisieren das zirkuläre Herum- und Voranschreiten der Zeit, geben dem Abend einen sanften, überzeitlichen Dauerrhythmus, der das Gleichbleiben in der Veränderung – das ja auch Königs immer gleicher und stets anderer Orlando ausdrückt – verkörpert. Nur negiert dies eben auch ein wenig die Kanten und Stachel der Geschichte, die feministische Dringlichkeit, die Woolf bei aller Leichtigkeit im Tonfall natürlich vorschwebte. Orlandos Erstaunen darüber, was ihr als Frau alles nicht mehr möglich sei, hat etwas harmlos Humoristisches, auch weil die Männer allesamt lächerliche, aufgeplustert arrogante Hampelmänner sind, am amüsantesten noch Carolin Haupts spektakulär geckenhafter Dichter Greene. Vergegenwärtigungen tendieren ins plakativ Alberne, zuweilen ins Belanglose, wenn sich gegen Ende Orlando in einer Prenzlauer-Berg-Klischee-Hausparty wiederfindet, verkümmert Virginia Woolf zur TV-Satire.
Der feministische Furor, der im Roman subkutan stets zu spüren ist, fehlt hier – weil die Fallhöhe fehlt, das Patriarchat über das karikatureske Abziehbild nie hinausgeht. Und auch die theatrale Anlage, das Gemachtsein der Bilder, verpufft schnell, in seiner Symbolik, die hier auch die Konstruiertheit der Geschlechterzuweisungen und -rollen meint. Zu dominant ist das Ergebnis, der Film, zu komödiantisch der Ton, zu detail- und ideenverliebt die filmische Produktion. So bleibt letztlich wenig mehr als eine technisch perfekt erzählte Geschichte über eine ungewöhnliche Figur, ein unterhaltsam inszenierter Live-Film, ein kurzweiliger Ritt durch Geschlechterbilder und Epochen, den wenig wer als der Schauwert, als das Oberflächliche interessiert, eine humorvolle Varieténummer, der Aufwand wichtiger als Substanz ist. Das ist sehr ansehnlich, überaus unterhaltend – und vergleichsweise schnell vergessen. Nur ein Film halt.