Nach Édouard Louis: Im Herzen der Gewalt, Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin (Regie: Thomas Ostermeier)
Von Sascha Krieger
Es ist kein besonders angenehm zu lesendes Buch. Wie auch? In Im Herzen der Gewalt, Édouard Louis‘ zweitem Roman, geht es um einen Akt brutalster Gewalt: Ein junger Mann trifft nachts einen anderen auf der Straße, nimmt in mit nach Hause. Sie haben Sex, mehrfach. Dann entdeckt er, dass der andere Tablet und Smartphone eingesteckt hat. Die Lage eskaliert, es kommt erst zum Mordversuch und dann zur Vergewaltigung. Louis erzählt hier seine eigene Geschichte. Ihm ist das passiert, zu Weihnachten. Minutiös, obsessiv erzählt er die Versuche des Umgangs mit dem Geschehenen: das Sich-Verschließen wie das zwan- und krampfhafte Sich-Öffnen, die Suche nach Erklärungen, das Verdrängen, den Umgang mit den mal gleichgültigen, mal feindseligen, oft entwürdigenden Reaktionen von Polizei, Ärzten, Familie, den Aufbau einer Lüge, die das Weiterleben ermöglicht. Primär geht es um die Zurückgewinnung der Kontrolle über sich selbst und die eigene Geschichte. Ein schmerzhafter Prozess, auch für den Leser. Louis gelingt er, indem er die Geschichte zunächst outsourcet, die Schwester sie ihrem Mann erzählen lässt, was ihm die Möglichkeit gibt, sich ihr aus der Distanz zu nähern, sie quasi von außen zu betrachten, Fehler zu finden, zu korrigieren, die eigene Sicht, die eigene Stimme zu finden.

Hier setzt Thomas Ostermeiers Inszenierung an. Wir sehen Édouard, gespielt von Laurenz Laufenberg, der seine Figur im Spannungsfeld zwischen jugendlicher Scheu und kalt reflektierender Analyse aufbaut, der sich seiner Geschichte von außen nähert. Während ein Spurenerkennungsteam die Bühne in einen Tatort verwandelt, tastet er sich zaghaft voran, unsicher, fremdelnd mit der Situation, findet irgendwann ein Mikrofon und beginnt zu erzählen. Am Ende wird er zu dieser Szene zturückkehren, ihre Mitte bilden. Dann liegt er, nur mit einem Handtuch bekleidet, auf dem Boden, ein Opfer, ja, aber auch Herr über seine Geschichte, sein Leben. Dazwischen wird er um selbige kämpfen. Zunächst zersplittert sie. Während er über den unmittelbaren Nachgang des Verbrechens berichtet, beginnen die Mitspieler*innen seine Erzählung zu illustrieren. Christoph Gawenda wird dabei zu seinem Double, wischt den Boden so obsessiv, wie er gerade geduscht hat. Édouard muss sich zur Figur machen, muss seine Geschichte von sich abspalten, um sie an sich heranzulassen.
In der Folge ringt er um die Hoheit über sein Leben. Er fällt der Schwester ins Wort, die berichtet, interpretiert, kommentiert, wertet, verurteilt. Er agiert als Regisseur, bricht Szenen ab, setzt neue an, legt Situationen fest und positioniert sich im Dauerfeuer der Narrative. Da ist die Geschichte der Schwester, durchtränkt von der Kränkung durch den Bruder, der sich von der Unterklassenfamilie in der rückständigen Provinz abgewandt hat, die rassistischen bis homophoben Anwürfe der Polizei (der Täter ist Kabyle), die bürokratische Effizienz der Ärzte. Möbel werden auf die Leere, mit einer weißen Rückwand verkleideten Bühne (Nina Wetzel) geschoben, Raumminiaturen angedeutet, fragmentareísch, wie Erinnerungs- oder Traumfetzen. Schwarz-weiße Nahaufnahmen bedecken die Rückwand, frieren ein, Bilder vom Geschehen, die dieses nie fassen können, Interpretationen, materialisierte (Vor)Urteile. In kleinen Choreografien sucht Laufenbergs Édouard Gemeinsamkeiten, eine kollektive Erzählung, findet sie nicht, probiert es wieder.
Die, die er versucht, pendelt zwischen dem Verbrechen und der ungelösten Beziehung zur eigenen Vergangenheit. Immer wieder muss er sich Vorwürfen der Schwester stellen, sieht sich mit der frage konfrontiert, wieviel in seinem Leben eine Lüge sei. Dies ist ein zentraler Aspekt des Buches, der in der Inszenierung leider zu kurz kommt. Zu zickig klischeehaft ist Alina Stieglers Schwester, zu albern die Drag-Queen-Auftritte Gawendas als Mutter, als dass sie ernsthaft eine Auseinandersetzung um Wahrheit und Lüge zuließen. Der Schwester „gesunder Menschenverstand“ bohrt immer wieder kleine Löcher in Édouards Selbstverständnis, bleibt in amüsanten Spitzen aber immer an oder in der Nähe der Oberfläche. Enttäuschend auch die Erzählung der Kurzzeitbeziehung zu Reda (Renato Schuch), dem Zufalls(?)-Vergewaltiger. Von wunderbarer Unschuldigkeit das Aufeinandertreffen, das Annähern, fast wie eine Liebelei unter Pubertierenden. Dann der Umschwung, brutal, hart, kalt. Die Brutalität ausgestellt, kühler Realismus, ohne jede Vielstimmigkeit. Hier wird gezeigt, nicht reflektiert, hier setzt Édouards dauerhafter zwang zur Infragestellung plötzlich aus. Selbst die Geschichte von Redas Vater, die er sich im Buch erfindet, um seine Geschichte zu finden, wird jetzt Reda als dessen erzählung in den Mund gelegt und verliert damit jegliche Funktion im Ringen um Selbstermächtigung und im Diskurs um die Produktivität der Lüge als Instrument der Wirklichkeitsveränderung.
Hier zeigt sich die Unentschlossenheit dieses Abends, der die Distanz sucht und sich doch immer wieder in eindimensionale Nähe hineinsaugen lässt; der die Möglichkeit selbstbestimmter Erzählung thematisiert, problematisiert, mit ihr kämpft, um sie dann einfach zu behaupten; der von Lüge und Wahrheit spricht, einer spielerischen Auseinandersetzung mit ihnen aber wiederholt aus dem Weg geht. So sorgfältig er zu Beginn das fragile Spiel der Erzähl- und Realitätsebenen des Romans in Theatermittel zu übersetzen sucht, so sehr verwirrt er sich an der eigenen Unmöglichkeit einer stringenten Erzählung. Er schwankt zwischen der Geschichte einer existenziellen Verunsicherung auf Basis einer traumatischen Erfahrung und der größeren Geschichte einer Emanzipation, die eine Entfremdung vom eigenen Umfeld bedingt. Es gelingt ihm nicht, die Stränge zusammenzuführen, sie bleiben in unterschiedlichen Welten, die Unsicherheiten der Hauptfigur voneinander getrennt. Und so zerfällt der Abend, verliert sich und am Ende sein Ziel, sein Zentrum aus den Augen, erzählt nach, wo er verkörperlichen sollte, zitiert, wo er seine eigene Geschichte zu finden hätte. Und so lässt Im Herzen der Gewalt den Zuschauer seltsam kalt, verharrt die Inszenierung in einer unterkomplexen Außensicht, erzählt eine Geschichte, die Fragment bleibt, aber ihre eigene (Un)Möglichkeit zu wenig reflektiert, ist zu oft eine Nacherzählung, eine Art theatraler Inhaltsangabe. Ins Herz der Gewalt dringt sie ebenso wenig vor wie in das des Zuschauers.