Alan Gilbert dirigiert die Konzerte zum Jahreswechsel des Gewandhausorchesters Leipzig mit Beethovens Neunter
Von Sascha Krieger
Es passiert nicht oft, dass diese Ehre einem zuteil wird, der nie Chefdirigent dieses Orchesters war: Die traditionellen Silvesterkonzerte des Leipziger Gewandhausorchesters sind normalerweise Chefsache. Denn die Tradition wiegt schwer: Bald sind es 100 Jahre, dass Arthur Nikisch begann, zum Jahreswechsel Beethovens neunte Symphonie spielen zu lassen – eine Anregung, der mittlerweile überall auf der Welt gefolgt wird. Doch das Original – seit Jahrzehnten live im Fernsehen übertragen – findet in Leipzig statt. Nun also darf Alan Gilbert ran, nachdem sich Neu-Chef Andris Nelsons im Vorjahr etwas verhoben hatte. Der New Yorker steckt gerade zwischen Jobs – seine Amtszeit beim New York Philharmonic ist zu Ende, die Position beim NDR Elbphilharmonieorchester noch nicht angetreten – er hat also Zeit. Und Lust, wie es scheint. Und keine Scheu vor der großen Aufgabe. Die er beeindruckend unsentimental angeht, mit dem klaren Willen, sich dem Werk auf eigene Weise zu nähern, ohne zu viel Respekt vor der Tradition, dafür um so mehr vor dem musikalischen Monstrum, das es zu bändigen gilt.

Denn einen optimistischen Gruß zum Jahreswechsel lässt er nicht hören. Ganz im Gegenteil: Äußerst verknappt setzt er an, mit großer Strenger lässt er den Kopfsatz nehmen. Da brodelt es unter der Oberfläche, die scharfe Kanten aufweist. Viel Zug ist in diesem Spiel, weniger Schönklang. Gilbert verdichtet, setzt klare rhythmische Akzente, lädt diesen Auftakt mit einer Härte auf, die zuweilen ins Gewalttätige zu kippen droht. Sollte es hier „per aspera ad astra“ gehen, ist der Weg weit. Von bleierner Schwere das Marschthema, voll wissender Sachlichkeit die lyrischeren Passagen. Hier herrscht der Konflikt, regiert – auch klanglich – die Dunkelheit. Das setzt sich im zweiten Satz, in der Neunten das Scherzo, fort. Dabei braucht er nicht einmal besondere Brutalität: Die berühmten disruptiven Paukenschläge etwa lässt Gilbert nüchtern, ja, trocken spielen. Die Gewalt, die von diesen beiden Sätzen ausgeht, ist eine der Kälte. Dunkel grundiert, dicht und äußerst perkussiv das Klangbild, rhythmische Prägnanz ist der treibende Faktor. Gegen Ende gewinnt der Satz eine Unerbittlichkeit, die frösteln mach.
Da steht der lyrische dritte Satz etwas verloren da. Alan Gilbert versucht gar nicht, ihn – der im Finale ja ebenfalls zurückgewiesen wird – in die Welt der ersten beiden zu holen. Stattdessen lässt er die sehnsüchtige Klage dahinfließen, in klar eingefassten Bahnen, vollkommen unsentimantal, mit sachlicher Ehrlichkeit. Da sind keine Schnörkel, kein Schwelgen, der Klang ist klar, fest und äußerst schlank. Gegen Ende schleichen sich leichte Härten ein, gelegentlich entstehen klangliche Unschärfen. Insgesamt jedoch ist dieser Satz eine Oase der Ruhe in all diesem lärmenden Kampf. Nüchtern, illusionslos und gerade dadurch mitunter gar berührend. Und in seiner stillen Wahrheit gerät der Satz gar zu einem, vielleicht dem Kraftzentrum dieser „Neunten“.
Es ist nur eine Pause, bevor der Endkampf losbricht. Wie Inseln isoliert stellt Gilbert die zurückzuweisenden Zitate zur Diskussion, Bruchstücke einer zerfallenden Welt. Deren Gegenpol auch nicht gerade freundlich lächelnd daher kommt. Streng antworten die Celli und Bässe von beinahe trockener Nüchternheit ist das Freudenmotiv bei seinem ersten Auftauchen. Die Rhythmik bleibt bestimmend und so ist auch die erste triumphale Apotheose der Freudenmelodie von mehr Härte erfüllt als von Jubel. Den harten, nüchternen Gestus übernehmen auch die vier Sänger*innen und drei Chöre, denen nicht allzuviel Nuancierung erlaubt ist. Die stehen für eine höchste Instanz, die nicht allzu wohlwollend erscheint. Das finale „vor Gott“ der Cherub-Passage ist von beinahe alttestamentarischem Entsetzen durchzogen. Erschütterung ja, aber keine befreiende.
Die kommt auch nicht mehr. Die Binnenspannung ist hoch, die innigeren Momente, etwa die um Brüderlichkeit flehenden Passagen des Chors verbergen stets ein gewisses Zwielicht, flirren zwischen Hoffen und Bangen. Unter den Solist*innen kann Bass John Relyea mit seiner sehr dunklen und voluminösen Stimme noch am ehesten überzeugen, während Tenor Klaus Florian Vogt sich bis zur Unkenntlichkeit zurücknimmt und auch Sopranistin Genia Kühnmeier und Altistin Gerhild Romberger alles tun, um nicht zu glänzen. Am Ende kommt die Einsicht: Die letzte Brüderwerdung ist von erschütternder Klarheit, der letzte „Kuss der ganzen Welt“ strahlt hart und eisern aus der Düsternis hervor. Das Ende ist von treibender, beinahe rasender Schärfe. Gibt es hier eine Erlösung, liegt sie in der Einsicht, dass das Leben Kampf ist und jeder Triumph des Lichts bestenfalls temporär. Am Ende des Jahres 2017 keine ganz weit hergeholte Lesart der „Neunten“. Kraftvoll, ehrlich, kompromisslos.
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