Elfriede Jelinek: WUT, Deutsches Theater (Kammerspiele), Berlin (Regie: Martin Laberenz)
Von Sascha Krieger
Wir leben, das hört man ständig, im Zeitalter der Wut. Ob der „heilige Zorn“ selbsternannter Gotteskrieger oder das angsterfüllte Aufbegehren abendländischer „Kulturverteidiger“, für die der schöne Begriff des Wutbürgers verniedlichend herhalten darf, ob Paris, Brexit oder Trump: Die Wut ist überall, sie zündelt an allen Stellen und in alle Richtungen, gibt es einen Konflikt, steht Wut gegen Wut. Nach den Pariser Anschlägen gegen die Satirezeitschrift Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt hat Elfriede Jelinek versucht, sich mit dieser Wut auseinanderzusetzen, die Frage gestellt, woher sie kommt und was sich mit ihr anfangen ließe. Heraiusgekommen ist ein selbst für ihre Verhältnisse ungewöhnlich mäandernder Text, ein ausfransendes Konvolut offener Enden, in dem der Bogen von Prometheus und dem heldengebährenden Zorn der Ilias reicht bis zum „Gotteskrieg“ als Sinnangebot und der individuellen Frustration als Wutquelle. Pegida kommt vor, der Widerstreit zwischen religiösem Bilderverbot und der Bilderflut als Waffe, Gott wird angerufen, wetteifert mit sich selbst oder, je nach Perspektive, den göttlichen Rivalen, Jesus lässt sich kreuzigen und macht dabei ein Selfie von sich. Ein völlig überladener Eintopf postmoderne Verunsicherung. Der Text als Instrument der individuellen wie kollektiven Selbstbefragung, als Mittel der Analyse und als sein eigenes Symptom.

Was also damit machen, wie sich diesem mit sich selbst ringenden Monstrum nähern? Martin Laberenz postuliert im Programmheftinterview das „Ausprobieren“ als Grundprinzip seiner Inszenierung. Also wird probiert, was durchaus im theatralen Sinne zu verstehen ist. Die Darsteller*innen sprechen sich, bei Laberenz üblich, mit ihren echten Namen an, fallen immer wieder zurück in den modus des Abbrechens, Neuansetzens, Etwas-Anderes-Probierens, wobei immer klar ist: Auch diese vermeintliche Probensituation ist natürlich Spiel, ist nur eine weitere Ebene der Textarbeit. Zunächst versammelt man sich bei einer schicken Cocktailparty und diskutiert. Das ist schon einmal Distanz pur: Was könnte weiter weg sein von Gotteswahn und extremistischer Wut als der intellektuelle Diskurs bei Barjazz-Begleitung? Zumal Laberenz die darin liegende Kontrastierung nicht weiter interessiert. Kollektiver Frontalunterricht wechselt mit Solovorträgen, irgendwann paaren sich Siebzigerjahre-Outfits mit Marien- und Jesusfiguren, Jesus wird in einem nebelverhangenen Wutrausch auf einem Auto gekreuzigt und inszeniert sein Leiden eindrucksvoll stöhnend als YouTube-Video, am Ende wetteifern Propheten und Nonnen mit einem Mann in Tarnkleidung und einem anderen im Hühnerkostüm in einer Art Poetry-Slam. Viel Betrieb also in diesen langen zweieinhalb Stunden. Doch führt dieser Exzess des Ausprobierens irgendwohin?
Nein, und das ist der Kern des Abends. Das von Laberenz postulierte Ausprobieren hat einen großen Vorteil: Es schafft Distanz und es zwingt nicht zu einer Haltung. Jedesmal, wenn sich so etwas wie ein Bedeutungsangebot abzeichnet, sich eine Interpretation aufzudrängen scheint, sich das Publikum verleitet sich, eine Beziehung zum Debattierten zu entwickelt, kann sich der Abend wieder zurückziehen und sagen: „Hey, was doch nur ein Test!“ Und das tut er ausgiebig. Laberenz lässt den Text laufen, ins Uferlose, wo sich bei Jelinek oft die Erkenntnis versteckt, wo sich unerwartete Verknüpfungen ergeben, wo Sackgassen in eine Art Sinngebung wider Willen führen. Wenn es diese Punkte in diesem Text gibt, findet Martin Laberenz sie nicht – weil er sie nicht sucht. Beim ihm wird Jelineks hakenschlagende Textjagd zum nuancenfreien Einheitsbrei, werden die Assoziationsketten totgetrampelt und die Wortspiele weggeleiert, bis aus dem stachelig Widersprüchlichen endlich Beliebigkeit geworden ist. Das gelingt dem Abend früh und in diesem Modus richtet er sich ein. Ob Islamismus oder Pegida: Der Wutbrei ergießt sich als meist dröge, zuweilen auch mal schärfere – was vor allem an Andreas Döhler liegt, der wiederholt dem denkfaulen verbalen Dauerlauf in die Parade fährt – Lawine der haltungsfreien Bedeutungshuberei. Das ist umso erstaunlicher, als sich der Regisseur vor allem die Passagen herauspickt, in denen seine Wütenden die Hybris rechtfertigen, über Leben und Tod zu entscheiden. Dass es Laberenz gelingt, gerade diesen Textteilen Beliebigkeit zu verschaffen, ist eine erstaunliche Leistung.
Worum es geht, wird ohnehin schnell zur Nebensache. Bilderverbot, Gott als kollektiver Vaterersatz, Terrorismus als Bedeutungsangebot in einer Welt der Überforderung? Egal. Wollte man sich mit Jelineks Thesen, Gegenthesen und deren abrissbirnenschwerem Zum-Einsturz-Bringen wirklich befassen, die unterschiedlichen und sich gegenseitig ins Wort fallenden und in die Beine fahrenden Interpretationsangebote annehmen und untersuchen, käme man irgendwann nicht umhin, Haltung zu entwickeln. Und das, sagt uns der mehrfach ironische Grundton des sich als „Ausprobieren“ tarnenden interpretatorischen Rückzugs, auf dem sich die theatralen Truppen Laberenz‘ von der ersten Sekunde an befinden, ist eben genau, was der Abend verweigert. Lieber zitiert man ein bisschen: die wabernde Nebulosität von dämmrigen Klangwelten aufgeladenen offenen Text- und Spielflächen eines Sebastian Hartmann, die nächtlichen gespenstische per Live-Video verdoppelten und riesenhaft verzerrten Diskursalbträume eines Frank Castorf, selbst die Textzettelei der Probensituation als theatralem Katalysator eines Nicolas Stemann. Nur bleibt das Zitat ebenso sehr Selbstzweck wie alles andere. Ein Diskurs, ob textlich, spielerisch oder visuell, über die Wurzeln der Wut in unserer konfusen Welt wird eben nicht geführt, statt zu hinterfragen richtet sich dieser Abend ein in der bequemen Beliebigkeit des Nichtaufzulösenden. Und wenn sich die Fragen nicht beantworten lassen, warum sie überhaupt stellen? Ist es dann nicht besser, sie selbst in Frage zu stellen? Oder besser noch: ihre Existenz gleich zu ignorieren. Machen wir doch lieber ein Selfie mit Jesus. Sinnfragen sind ja so gestrig. Der Abend endet mit der ABBA-Zeile „I wish I understood“. Eine letzte, für den Zuschauer recht bittere Ironie.
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