„Dann beginnt die Tragödie“

Milo Rau: Empire, Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin / International Institute of Political Murder (Regie: Milo Rau)

Von Sascha Krieger

Wo findet Geschichte eigentlich statt? Auf den Schlachtfeldern, in den „Situation Rooms“, in den Trümmerlandschaften zerbombter Städte und den Schreckensbildern atemloser Nachrichtensender, in dem, was wir die Öffentlichkeit nennen? Wie schon in den ersten beiden Teilen seiner Europa-Trilogie, The Civil War und The Dark Ages, beginnt Milo Rau auch Empire in diesem Außen, das wir für die Welt halten. Eine ausgebrannte Hausfront ist es diesmal, die Rau in die Mitte der Bühne gestellt hat. Sie könnte aus Berlin stammen, anno 1945, oder dem Aleppo des Jahres 2016. Doch kaum geht das Licht an, machen sich schon vier Menschen daran, die Fassade umzudrehen und ihre Rückseite preiszugeben. Eine Küche sehen wir, den Nachbau jener der Mutter von Ramo Ali, syrisch-kurdischer Schauspieler, und einer der Protagonisten dieses Abends. Milo Raus Trilogie ist buchstäblich ein Blick hinter die Kulissen, hinter das, was wir sehen, wenn wir den Fernseher anmachen oder ein Geschichtsbuch aufschlagen. Er bringt uns dorthin, wo der Krieg wütet, wo die wunden geschlagen, die Toten beweint, die Gräber geschaufelt werden. Nach einem belgischen Wohnzimmer und dem Büro eines bosnischen Menschenrechtsaktivisten nun also eine selbst geschreinerte Küche im türkisch-irakisch-syrischen Grenzland, selbst eine wunde, zugefügt von dem „Empire“, das hier gemeint ist, Europa, das einst die Welt zerschnitt, um seine Macht zu festigen. Die kugeln, die es damals abschoss, fliegen noch heute.

Bild: Marc Stephan
Bild: Marc Stephan

Wieder ist der Abend in fünf Kapitel unterteilt, in denen es um Familiengeschichte, Trauer, den Verlust von Heimat geht. Sie tragen Namen wie „Theorie der Abstammung“, „Ballade des gewöhnlichen Menschen“ und „Heimkehr“. Vier Schauspieler erzählen ihre Geschichten, jeder für sich, eine Kamera gerichtet auf den der gerade spricht. Er oder sie ist stets zweifach präsent: als reale Person, die da vor uns sitzt, und als riesenhaft vergrößertes, gleichsam öffentliches Bild in Schwarz-Weiß. Damit nicht genug: Alle vier sind Schauspieler*innen, ein Fakt den Empire auch thematisiert. Wo beginnt das Spiel und endet die Wahrheit und sind beide überhaupt zu trennen? Ist der Flüchtende oder der nach Auschwitz deportierte, der behauptet, ein anderer zu sein, nicht auch ein Schauspieler, der spielt, um zu überleben?

Da ist Ramo, der kurdische Schauspieler, der im Gefängnis war und jetzt im Exil lebt. Rami Khalaf, geflohener Syrer, dessen Bruder, aktiv bei den Anti-Assad-Demonstrationen, vermisst wird. Maia Morgenstern, rumänische Schauspielerin, deren Großvater in Auschwitz starb, deren Eltern die Shoah überlebten und die sich dann anspucken lassen musste, weil sie in Mel Gibsons The Passion of the Christ spielte. Und Akillas Karzissis, dessen Familie eine Fluchtodysse absolvieren musste, bevor sie im grauen Thessaloniki der Militärjunta landete, aus dem er ausbrach in die Freiheit, die führ ihn Heidelberg hieß. Doch was ist Freiheit, wenn die eigene Familie getötet, die Heimat vernichtet wird und man selbst auf das Rollenfach „Ausländer“ festgelegt ist. Die Geschichte Europas ist in Raus Trilogie eine Geschichte der Gewalt. In Empire reicht sie weiter als je zuvor, ist Europa die Welt, die es sich einst untertan machen wollte.

Sanfte Klaviermusik ertönt und folkloristisch angehauchte Sehnsuchtsklänge, die eine elegische Atmosphäre ausbreiten und von Eleni Karaindrou stammen, die einst Filmmusiken für Theo Angelopoulos schuf, in dessen Filmen auch Morgenstern spielte. Die berühmte Szene aus Der Blick des Odysseus, in der eine liegende, gefallene Leninstatue langsam die Donau hinauffährt, fehlt auch hier nicht. Das ist durchaus symbolisch gemeint, denn der Geist Angelopoulos‘ durchpulst diesen Abend. Das wichtigste bei ihm sei die Zeit, sagt Morgenstern, und das gilt auch für Empire. Zeit ist hier weder linear noch zirkulär, die ist wie ein vierstöckiger Turm auf den man von oben blickt. Alles greift ineinander: die Gegenwart und die Vergangenheit, das Öffentliche und das Private, die Familie und die Welt. Die Gewalt ist in beiden: in den erbarmugslosen Schlägen von Alis Vater und den Folterkellern Syriens, in den sadistischen Bestrafungsritualen von Vater Morgenstern und den Gaskammern von Auschwitz. Wenn hier die Söhne und Tochter sitzen, sprechen zugleich die Mütter und Väter, in diesem Fall sogar im Wortsinn.

Es sind zerrissene Väter, die lieben und strafen, starke Mütter, die umsorgen und schweigen, Söhne und Töchter, die lieben, hassen, aufstehen und wegsehen. Sie haben ihre Heimat verloren, selbst wenn es sie noch gibt. Das zerschossene Qatana oder das nicht wiederzuerkennende Thessaloniki – sie sind längst innere Orte geworden, die jeder mit sich schleppt und doch gerade deshalb nie erreichen kann. Wie in den ersten beiden Teilen ist auch diesmal die Theatergeschichte präsent. Nach Tschechows Kirschgarten und Shakespeares Hamlet  ist es diesmal Medea, die durch den Abend spukt. Selbst ein Knotenpunkt aus privater und öffentlicher Gewalt, ein Ort, an dem die große Geschichte eindringt in den ganz privaten Raum, unabwendbar, weil das was Medea tut oder zu tun glaubt, immer schon da war, da ist. Hier fängt Europa an, mit seinen Eroberungskriegen, seinem Macht- und Unterwerfungsanspruch, seinen Überlegenheitsfantasien. Hat Medea keine Wahl, haben die syrischen Demonstranten keine? Ist das Exil die einzige Chance zu überleben? Und was ist eigentlich diese Freiheit, von der auch die, die wir hier sehen, träumten, träumen?

Empire  ist der Endpunkt, das Ziel der Trilogie. Hier laufen sie zusammen, die Fäden der ersten beiden Teile, in denen von der Kapitulation des Westens vor heilversprechenden Ideologien, von Flucht und Schuld und beider Unentrinnbarkeit die Rede war. Alles ist ambivalent, zweischneidig, nie nur eines allein. Die Gegenwart ist Vergangenheit, das Private politisch und tödlich, Religion lebenserhaltend und vernichtend. Die Zeit will nicht vorankommen, auch nicht an diesem Abend, der deutlich länger erscheint als seine zwei Stunden und doch keine Längen hat. Immer wieder sehen wir Bilder von Flüssen, keine ganz neue Metapher, aber eine, die diesen Abend trifft. Er fließt dahin, spült alles mit sich, spuckt das eine oder andere aus und kann doch nie zum Stillstand kommen. Die Väter sind die Söhne sind die Töchter sind die Mütter. Und eben auch nicht. Gewalt wird vererbt, aber sie ist nicht ohne Alternative, Schuld wird weitergetragen, aber sie wird auch abgelehnt. Die Hand, die tröstet, schlägt zugleich. Vielleicht ist das Europa, vielleicht liegt hier sein Kern. „Das ist unsere Freiheit“, sagt Maia Morgenstern: „Einsamkeit.“ „Und dann“, fragt Akillas Karazissis am Ende? „Und dann?“ Die Antwort gibt er selbst: „Dann beginnt die Tragödie.“ Und die Geschichte. Oder die Geschichten, die hier erzählt werden. Und die wiederum zu einer gemeinsamen, kollektiven wie zutiefst persönlichen werden, sich vereinen und auseinanderlaufen. Kleine, große, unerträgliche und lächerliche, skurrile gar. Liegt hier der Ausweg? Im Erzählen, Erinnern, Bewahren und Loslassen? 

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