Das Bild, das wir uns machen

Kay Voges, Dirk Baumann und Alexander Kerlin: Die Borderline Prozession, Schauspiel Dortmund (Megastore) (Regie: Kay Voges) – eingeladen zum Theatertreffen 2017

Von Sascha Krieger

Das Bild, das wir uns von der Welt machen, ist nie ein vollständiges. Wir sehen immer nur einen Ausschnitt, einen den wir vorgesetzt bekommen oder selbst auswählen. Einer, der andere Ausschnitte ausschließt, andere Blicke, andere Perspektiven. Die Undurchdringlichkeit der (post)modernen Welt gepaart mit einer unaufhörlichen Bilderproduktion, die mehr zudeckt als sie erschließt – Kay Voges, Intendant eines der derzeit zweifellos spannendsten deutschsprachigen Stadttheater, jenem in der Ruhrgebietsmetropole Dortmund, hat daraus einen Theaterabend gemacht. Nein, das trifft es nicht. Die Borderline Prozession ist, ja , was eigentlich? Versuchslabor, Erfahrungsraum, Tableau vivant, eine Übung im Sehen- und Hörenlernen? Das Wort vom Gesamtkunstwerk schleicht sich ein und wird doch gleich wieder vom Hof gejagt. Nein, der Abend ist tatsächlich Theater in vielleicht seiner reinsten Form, Live-Kunst im realen Raum, getragen von Gesichtern, Körpern, Stimmen, entstehend wie vergehend im Hier und Jetzt des kurzen Moments einer seltsamen Gemeinschaft von Zuschauern, Schauspielern, Künstlern. Manches von dem, was hier entsteht, hat man schon gesehen, oft drängen sich Vergleiche auf, Namen anderer Theatermacher, aber das führt nicht weit. Und es ist auch unerheblich. Wenn es nach hunderten Jahren Theatergeschichte tatsächlich noch etwas Originäres – ja, verwenden wir einfach das furchtbarste aller Schlagwörter: etwas Neues –geben kann, dann passiert das gerade in Dortmund. Ja, Dortmund. Im ehemaligen Megastore von Borussia Dortmund. Welch wunderbare Fügung.

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Eingeladen zum Theatertreffen 2017: Die Borderline-Prozession (Bild: Marcel Schaar)

Michael Sieberock-Serafimowitsch hat in der Riesenhalle eine Miniaturwelt eingerichtet, die sich von zwei Seiten betrachten lässt. Auf der einen befindet sich eine Wohnlandschaft: Küche, Bad, Esszimmer, Schlafzimmer, dazu ein Außenbereich mit Whirlpool und ein Fitnessraum mit Batman-Tapete. Die andere Seite ist die Außenwelt: eine Bushaltestelle, ein Kiosk, ein parkendes Auto, ein rot erleuchtetes Fenster, das einschlägige Dienste anbietet. Der Zugang zum Innen ist vergittert und bewacht, beide trennt zudem eine massive Mauer samt Stacheldraht. „Ein Loop um das, was uns trennt“, verspricht der Untertitel. Also fährt ein Kamerawagen drei Stunden lang um diese Szenerie, meist langsam, uns kurze Einblicke gewährend in Innen- und Außenleben dieser unserer Welt. Der Blick ist ein fragmentarischer. Der Zuschauer sieht nur eine Seite und das, was die Kamera einfängt. Das ganze Bild erschließt sich ihm nicht, zumal Voges eine Ebene auf die nächste stapelt. Es gibt Zitateinblendungen, live eingesprochene Texte – von einer Kriegsrede Roosevelts über das kulturpolitische Programm der AfD bis zu allerlei Literarischem und Philosophischem – eine ausgefeilte Musikspur und eben eine Vielzahl visueller Komponenten. Ständig muss das Publikum Entscheidungen treffen. In welchen Raum schaut es, auf welche Figur fällt der Blick, liest man lieber die Texte oder schaut aufs Videobild? Jede Entscheidung für ein Bild, ein Detail ist immer auch eine Entscheidung gegen ein anderes. Das sagt auch Susan Sontag, eines von vielen Zitaten dieses Abends.

Also hinein in diese Welt, die sich erst langsam bevölkert. Es beginnt als titelgebende Prozession. Allerlei mehr oder weniger skurrile Gestalten folgen der Kamera, singen Tuxedomoons „In a Manner of Speaking“ wie ein dunkles, trauriges Mantra und lösen sich nacheinander, um die Bevölkerung der kleinen Welt zu bilden, nur um sich später wieder einzureihen in den, nun ja, Lauf der Welt? Das ist zunächst alles sehr unspektakulär: ein Mann am Frühstückstisch, ein anderer im Fitnessraum, ein verwirrter Tourist mit Stadtplan, ein grotesk maskiertes Schulkind im Vegard-Vinge-Look, ein Paar in inniger Nacktheit. Bilder exquisiter Einsamkeit, verloren in langsamer Wiederholung. Ersan Mondtag und Susanne Kennedy mögen hier Pate gestanden haben oder auch nicht, in jedem Fall lässt die fragmentierte Bilder- und Informationsflut derartige Vergleiche schnell lächerlich erscheinen. Denn was hier passiert, lässt sich auf einzelne Komponenten nicht sinnvoll reduzieren. Texte zur Klischeehaftigkeit und der inhärenten Manipulationskraft jeglichen Bildes,  zur Trennung als Grundprinzip der Gesellschaft und vielleicht sogar der Natur treten in ein aufregendes und sich nie auflösendes Spannungsverhältnis. Hinzu tritt die Gleichzeitigkeit von Normal- und Ausnahmezustand. Da steht plötzlich ein Uniformierter im Fitnessraum, zwingt den gerade noch Trainierenden in einen organgefarbenen Guantanamo-Overall und praktiziert im Whirlpool Waterboarding, während auf der Tonspur die manische Anrufung von Allen Ginsbergs Howl läuft. Beiläufiger und drastischer lässt sich die Brüchigkeit einer Gesellschaft, welche den Ausschluss des Nichtzugehörigen bedingt und Gewalt als Mittel braucht, nicht zeigen.

Im zweiten Teil kippt die Stimmung denn auch. Der syrische Schauspieler Raafat Daboul rezitiert den Shylock-Monolog auf arabisch, ein grandioses, stilles Bild von kultureller Verbindung und gleichzeitigem Ausgeschlossensein, von küntlerischer wie menschlicher Selbstbehauptung. Aus dem freundlichen Concierge am Gitter werden zwei martialische, hypernervöse Soldaten, die Besucher mit zunehmender Brutalität abweisen und auch vor einer mehr als grafischen Vergewaltigung nicht zurückschrecken. Verzweiflung macht sich breit, ein Mann stirbt, während drinnen alles seinen Gang geht. Oder? Denn auch hier wird es dunkler. Der Junge im Fitnessraum streift sich eine SS-Uniform über und probt den Hitlergruß, das Schulkind bekommt den Hintern versohlt, eine Meerjungfrau im Whirlpool zieht das Geschehen zunehmend ins Albtraumhafte. Am Ende, im dritten und kürzesten Teil, sind wir dann mitten im Traum. Zwanzig Lolita-Roboter zeigen mechanische Posen verzerrter Schönheitsvorgaben, ein feenartiges Wesen hält einen Fötus in der Hand und führt die Gesellschaft als Napoleons Leichenzug in die völlige Erstarrung, die in gleißendem Licht als grell entstellte Apotheose daher kommt. Am Ende dann nochmal die Vorstadthölle. „Schatz, was denkst du?“, fragt die Frau. Er antwortet: „Ich“, dann wird es schwarz.

Und ist doch ganz hell. Was ist hier passiert? Ein verwirrendes, überforderndes, flirrendes Mit-, Über-, Durcheinander von kaum mehr zu zählenden Ebenen, visuellen, akustischen, gedanklichen und, ja, emotionalen. Hier ist alles live. Regisseur Kay Voges läuft durch die Szene und gibt Anweisungen, Texte werden eingespielt und eingesprochen, die Tonspur jeden Abend neu abgemischt, alles ist hier und jetzt und nicht reproduzierbar. Der Zuschauer wohnt der Produktion der Bilder bei und verliert sich doch immer wieder in und stößt sich an ihnen, Illusion und Wahrheit bilden ein unsicheres, nicht zu trennendes Paar. Hier stülpt sich alles auf- und ineinander und ist doch nichts aufgesetzt, ein fast natürlich, ja, organisch zu nennendes Gewucher der unentwirrbaren Verstörung, die wir Leben und Welt nennen. Roosevelt und Bach, Deleuze und Mahler, alles ist eins und entzweit, ein Astronaut irrt verständnislos durch ein konstruiertes und doch irgendwie gewachsenes Universum, das Bilder produziert, unaufhörlich, obsessiv, Bilder, unter denen wir wählen müssen und vielleicht nur scheinbar können. Wer trägt die Verantwortung, was ist das Ich, das am Schluss abbricht, was kann es ausrichten, was sollte es versuchen. Es sind Fragen, die auftauchen, sich visualisieren, sich brutal brechen und natürlich nicht beantwortet werden oder werden können. Sie entlassen uns in eine Nacht, die taghell ist. Oder einen stockfinsteren Tag. Vielleicht beides, je nachdem, welches Bild man wählt.

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