Molière: Der Geizige, Deutsches Theater/Kammerspiele, Berlin (Regie: Martin Laberenz)
Von Sascha Krieger
Geld und Liebe: Das dieses Paar, von dem wir immer behaupten wollen, dass es nicht zusammenpasse, viel von dem bestimmt, was wir Leben nennen, ist eine „Weisheit“, für die ich sicher keinen gut dreistündigen Theaterabend brauche. Wohl jeder im Publikum – und auch die große, nicht regelmäßig Theater besuchende Mehrheit – werden schon einmal den Balanceakt zwischen beiden Polen versucht, sich zwischen dem einen der dem anderen zu entscheiden gehabt haben. Und doch hat diesen Widerstreit, das eben doch keiner ist, weil Geld in unserer Gesellschaft längst selbst zum Liebesobjekt geworden ist, wohl niemand je treffender dargestellt als Anita Vulesica als Heiratsvermittlerin Frosine in Molières Der Geizige in der Regie des DT-Debütanten Martin Laberenz: Gerade hat sie der Titelfigur die Liebe derer vorgeheuchelt, die jener zu ehelichen wünscht, da erbittet sie einen kleinen Obolus. Doch plötzlich blockt der Bräutigam, zieht die Vorhänge zu, lässt die Bittstellerin im Regen stehen. Immer kurzatmiger wird der Wechsel zwischen Schmeicheln und Flehen, aus ganzen Passagen werden Sätze werden Worte wird ein Wort. Geld und Liebe werden zu einem Konglomerat, das Vulesica unter schmerzen auskotzt, an dem sie fast erstickt. Ganz plötzlich sind wir bei Existenziellen angelangt, ansatzlos und brutal auf den Boden des Abgrunds geschleudert unter schallendem Lachen. Ein hochkomischer Moment und ein ungemein berührender zugleich.

Martin Laberenz‘ erste Regiearbeit am DT (von einigen Werkstattinszenierungen abgesehen) ist, sagen wir es gleich, ein Theaterwunder und entschädigt für so manche erstarrte Mutlosigkeit der letzten Zeit an diesem Haus. Sein Molière ist vom ersten Moment an ein Fall für die Psychiater-Couch: Das Personal ist überdreht bis zum Bersten, nervöse Zappelphilippe, die den Rand des Nervenzusammenbruchs schon vor Ewigkeiten passiert haben. Man verrenkt sich in Dauerschmerz, kann kaum man eine Sekunde still stehen, klammert sich manisch an einander und ist doch längst nicht mehr zu retten. Da erscheint der Geldanbeter Harpagon noch als der Ausgeglichenste, ist seine Weltsicht doch ebenso klar wie seine Prioritäten. Jene des Sohnes Cléante, der Tochter Èlise oder deren Geliebten Valère sind in nicht auflösbar erscheinender Verwirrung begriffen. Laberenz hat die Gefühls-, Sozial- und sonstigen Ökonomien einer kapitalistischen Gesellschaft in den Farbtopf geworfen, unter Speed gesetzt und als Farce im Zeitraffer auf die Bühne gestellt. Hier ist alles überdreht, Überspanntheit das neue normal, die Molière-Personnage postmoderne Geworfene mit viel Wut im Bauch, von der sie weder wissen, woher sie kommt, noch, wohin mit ihr.
Bei Laberenz entäußert sie sich mit atemberaubenden Ausbrüchen, bei denen die Grenzen zwischen Darsteller und Rolle fallen und doch alles Spiel bleibt – oder auch nicht. Da wird ein Definitionsstreit über Kreditnehmer und -geber zu einem epochalen Verbalausfall des großartigen Ole Lagerpusch mit den Diskurspartner Sebastian Grünewald und Harald Baumgärtner, in dem es um Marx, die Achtundsechziger und das prekäre Schauspieler-Dasein geht. Später nutzt Grünewald die Szene, in der der Diener Maître Jacques Harpagon erzählt, was die Leute von ihm denken (und dafür gefeuert wird) zu einer Tirade gegen seinen Kollegen Andreas Döhler und dessen sächsischen Akzent, die zur Generalabrechnung mit der Unsicherheit des modernen Lebens und jenes eines freiberuflichen Schauspielers im Speziellen wird. Wie sich diese Wutentladung steigert, nur um am Ende ganz natürlich in den Molière-Text zurückzufließen, ist von fast archaischer Wucht und bei aller Albernheit und zwerchfellerschütternder Komik von ungeheurer Wahrhaftigkeit durchpulst. Nein, hier geht es nicht um Döhlers vermeintliche Unfähigkeit, sich verständlich zu machen, vielmehr entäußert sich hier eine dumpfe Wut, die keinen Ausweg kennt.
Dabei ist aller Glanz nur Dreck – der die Bühne bedeckt – entpuppt sich der vermeintliche Schatz als Fäkalien (eine kleine Freud-Anleihe). Denn die Fassade verbirgt keine Substanz, alles ist leer, frei von Sinn, da können sie noch so toben: der dauerzappelnd überspannte Cléante Lagerpuschs, der rückgratlos Getriebene Valère Döhlers, die verzweifelte Naturgewalt der Frosine Vulesicas oder der zwangsneurotisch Möchtegern-Gern Dandy Harpagon des Michael Goldberg. Raus kommen sie nicht aus diesem Schlachtfeld, egal, ob sie sich vor der Pause auf einem Podest mit Wohnzimmerandeutung (Bühne: Volker Hintermeier) im Kreise drehen oder im zweiten Teil des abends auf die blanke Erde zurückgeworfen sind. Und doch können sie nicht anders als anzurennen, anzublödeln, anzuschreiben gegen die Sinnlosigkeit, was die wenigen stillen Szenen, etwa jener wunderbare Schluss des ersten teils, in dem Meile Droste den schlammbesudelten Sebastian Grünewald zärtlich per Wasserzerstäuber das Gesicht reinigt, das Gesicht wahrt, könnte man sagen. Der Schluss ist – trotz etlicher wunderbar eingebauter Texthänger – eine Abrechnung mit der Happy-End-Sucht, die der überforderte Bewohner der Postmoderne von seiner „Kunst“ vehementer denn je erwartet. Das schon bei Molière bewusst konstruiert wirkende Deus Ex Machina verkommt hier zum großen Aufschneiderwettberb, zum Make-Believe-Festival vollkommen heutiger Selbstdarsteller.
Und so wird er weitergehen, der Wahnsinn der Dauerselbstneuerfindung, der Image- und Scheinwahrung, der geldgetriebenen Liebes- und Beziehungsökonomie als Wettbewerbsfaktor in einer Gesellschaft voller Ich-AGs. Martin Laberenz zeigt die Geburt des Wutbürgers aus der selbstgemachten Verunsicherung, in dem er die Mechanismen des täglichen Lebens bis zur Kenntlichkeit verzerrt. Im Programmheft ist in einem Text von Georges Bataille von der Verausgabung die rede. Und nein: Der Abend geizt nicht, er verschwendet und such seine Wahrheit in genau dieser Verweigerung vermeintlicher ökonomischer Vernunft. Hier ist nichts ökonomisch, nichts vernünftig und schon gar nichts effizient. „Man muss doch mal fort von der Stelle,“ fleht Grünewald, „sonst retardiert das doch!“ Doch es ist gerade diese in der Dauerüberdrehung angelegte Ausbremsung linearen Voranschreitens, in dem der Abend vollends zu sich findet – als vermeintlicher Selbstzweck, als pures an sich scheiterndes Theater, das in eben diesem Scheitern seine Bestimmung, seine Wahrheit findet inmitten einer Welt, die genau das tut, ohne es sich eingestehen zu wollen. „Der Abend hätte so schön sein können!“, wirft Grünewald Döhler in seiner Tirade entgegen. Groß ist er zumindest geworden.