Peter Handke: Immer noch Sturm, Thalia Theater Hamburg (Regie: Dimiter Gotscheff)
Von Sascha Krieger
Unaufhörlich rieseln sie herab: grüne Papierschnipsel unterschiedlichen Farbtons. Dreieinhalb Stunden lang geht das so, bis sie die Bühne über und über bedeckt haben, bis der Fuß seinen Halt nur noch von dieser See von grün suchen kann. Es ist eines dieser starken Bilder, mit denen Kathrin Brack ihre sonst oft leeren Bühnen zu füllen vermag und die Dimiter Gotscheffs beste Inszenierungen im Gedächtnis verankern. Die gelbe Wand aus Die Perser. Die Nebelmauer im Iwanow. Und jetzt der grüne Regen in Immer noch Sturm. Gotscheff hat Peter Handkes wohl persönlichstes Stück uraufgeführt und er hat ein Bild gefunden, in dem Handkes komplexe und mäandernde Totenbeschwörung und Geschichtsparabel und Familienausgrabung mehr als nur angelegt oder gar illustriert ist. In seinem Spiel aus Flattern, Fallen, Verwehtwerden, in seinem die wenigen Momente der Stille durchbrechenden Rauschen, seinem nie enden wollenden Flüstern, erzählt er all die Geschichten, die Handke an die Oberfläche bringen will – und all jene, die verloren geglaubt sind, banale und schöne und tragische, Leben, die wie Blätter von den Bäumen gefallen sind, aber dennoch da sind, darauf wartend gefunden und erzählt zu werden. Erzählt im Handkeschen Sinn einer Offenbarung, einer Verwandlung gar.

Immer noch Sturm hangelt sich an Handkes Familiengeschichte entlang. Ein Ich-Erzähler und Alter Ego beschwört die Vorfahren herauf, lässt sie erscheinen und mit ihren Geschichten – und ihrer Geschichte – lebendig werden. Es ist die Geschichte der slowenischen Minderheit in Kärnten, die im Nationalsozialismus ihrer Identität und Sprache beraubt wurden, „für Führer und Vaterland“ ihr Leben ließen, sich im Partisanenkampf erhoben und nach dem Krieg als vermeintliche Sieger wieder aufs Abstellgleis geschoben wurden. Bei Handke werden aus Geschichten persönliche Geschichte, aus dieser Familiengeschichte und von dort Weltgeschichte, die dann wieder auf den Einzelnen zurückstrahlt. Und immer ist da die Gegengeschichte, hier verkörpert von Tante Ursula (Bibiana Beglau), der „düsteren Schwester“, die immer wieder dem Kanon der Wahrheit, auf die man sich kollektiv geeinigt hat, widerspricht, etwa der Mär vom „glücklichen Jahr“ 1836, das beispielsweise Bruder Gregor sein Auge kostete.
Geschichte als Fortschrittsvision ist ein Lieblingsfeindbild Handkes – wo man sich nicht einmal auf eine Wahrheit einigen kann, wie könnte sich da eine zielgerichtete Entwicklung fassen lassen? Und so ist Geschichte in Immer noch Sturm vor allem Erzählung, stets widersprüchlich und nie linear. Bestenfalls eine Kreisbewegung, wie sie die Mutter einmal mit sich ekstatisch steigerndem Furor vollführt und meistens nicht einmal dies. Geschichte ist die Gesamtheit der fallenden Blätter, die auch der Ascheregen, von dem Jens Harzer in seinem langen Schlussmonolog spricht, sein könnten. Und die nie sicher ist und immer eine – auch im Wortsinn – rutschige Grundlage bildet, solange noch neue Blätter fallen. Handkes Stück ist auch ein Anstürmen gegen die Gewissheit – und auch hier taugt das Bild des grünen Regens, der natürlich auch (grün!) ein Regen der Hoffnung ist.
Dimiter Gotscheff lässt die heraufbeschworenen Toten auftreten, überlässt ihnen die Bühne: der ruhelos suchenden Mutter, ihren gefallenen Brüdern, der gegen die Welt anrennenden Schwester, den zurückbleibenden Großeltern. Der schwarzgewandete Ich-Erzähler Jens Harzers mag der Beschwörer sein, doch bald übernehmen die Toten, lassen sie sich kaum mich kontrollieren, treiben sie den vermeintlichen Archäologen des Vergangenen vor such her. Sie haben die Macht, sie stecken den Rahmen ab für das, was wir die Gegenwart nennen und doch nur die Fortführung der Vergangenheit ist. Die Macht der Geschichte, der eigenen wie der „großen“: Gotscheff macht sie sichtbar in diesem fröhlichen, traurigen, wütenden Tanz der Toten, in dem der Lebende nur noch Statist ist.
Viele Momente prägen sich ein: die sehnsüchtige Härte der Schwester, der lähmende Schmerz des Großvaters (Matthias Leja), die wütende Empörung der Großmutter (Gabriela Maria Schmeide), die stille Auflehnung des Bruders (Tilo Werner). Zugegeben: Zuweilen gerät Gotscheffs Regie ein wenig zu illustrativ, wäre ein etwas weniger auftrumpfender Ton angemessener, vertrüge der Text ein wenig mehr Dynamik auf der Bühne. Insbesondere Jens Harzer tut sich schwer, den richtigen Ton zu finden: Mal knarzt er ein wenig zu rotzig, mal fällt er in deklamierendes Pathos, zu oft und lange starrt er starr-verbissen ins Publikum. Erst im langen Schlussmonolog findet er wirklich in seine Rolle, findet auch seine Stimme auf der nun leeren Bühne, die natürlich nicht leer ist, denn längst sind die Toten Teil des Ich geworden. Sie sind hier und sie werden hier bleiben und das ist wohl auch gut so.
Zum Flüstern der Blätter tritt eine sehnsuchtsvolle, wie aus der Traumwelt zu kommende Musik aus der Welt des Traums, in der Handkes Text eben auch zu Hause ist, eine geträumte Gemeinschaft, die im Erwachen verschwindet, aber dadurch nicht weniger real ist, denn sie bestimmt, quält, treibt dieses Ich, bildet seinen Kern, macht ihn erst zum Ich. Geschichte, so sagt es uns Handke und so zeigt uns der grüne Regen, ist nie vorbei und vielleicht ist das ja auch nie nur Last sondern stets auch Hoffnung. Dimiter Gotscheff ist eine würdige Erstinszenierung gelungen, die sicher ihre Längen hat, so manches Mal um den richtigen Ton ringt und zuweilen ein bisschen zu plakativ gerät. Und doch entwickelt sie einen so zwingenden Sog, eine so atmosphärische Dichte, dass das Wunder der Vorfahren- und Vergangenheitsbeschwörung vor unseren Augen geschieht. Und ist das Theater nicht genau dafür (auch) da?
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